03.12.2019

Vielfalt in 3D

Winy Maas über den Einfluss des Bauhauses auf MVRDV

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Winy Maas, Foto: Barbra Verbij

Was bedeutet das „befreite Wohnen“ für die Architektur von heute? Für Winy Maas haben sich die Versprechen der Moderne erst in den letzten Jahrzehnten eingelöst. Hinsichtlich einer gleichermaßen individuellen wie leichten Behausung, die auch den knappen Ressourcen gerecht wird, bleibt laut Maas allerdings noch einiges zu tun. MVRDV arbeiten daran.

Von Klaus Englert


Herr Maas, spricht man in Rotterdam über das Bauhaus, fällt einem die Van Nelle-Fabrik oder das Sonneveld-Haus ein. Welche Bauhaus-Einflüsse gibt es bei MVRDV?

Winy Maas: Das Bauhaus erfand einige Begriffe, die großen Einfluss auf die spätere Architekturentwicklung hatten. Einer dieser Begriffe war „Wohnung“. Wenn ich das englische Wort „accommodation“ benutze, denke ich zwangsläufig daran, unterschiedlichsten Menschen Unterkunft zu gewähren oder eine Heimstatt zu geben. Diese Bedeutungsvielfalt ist mit der Architektur verbunden. Mir gefällt das deutsche Wort „Wohnen“ besser als „living“, weil damit die „durée“ ausgesprochen ist, die Zeit, in der man sich im „Heim“ aufhält. Das Wohnen bekam durch das Bauhaus plötzlich eine offene, neue Bedeutung. Das ist das Erbe, das unsere architektonische Praxis mit dem Bauhaus verbindet.

1929 publizierte Sigfried Giedion das Manifest „Das Befreite Wohnen“, das den Untertitel „Licht – Luft – Öffnung“ trug. Giedion wollte mit dem Buch eine Revolution der vorherrschenden Wohnvorstellungen einleiten. Sind seine Forderungen nicht aktueller denn je?
Ich denke, dass es erst der Postmoderne gelang, diese Ziele auf eine Weise zu verwirklichen, wie es die Moderne angestrebt hatte. Das Bauhaus-Motto der „Öffnung“ konnte plötzlich bedeuten, dass ich mich gegenüber verschiedensten architektonischen Typen öffne, dass ich für mehr Individualismus, mehr Selbstbestimmung und mehr Vielfalt eintrete. Sprachen hingegen die Bauhäusler von „Öffnung“, dann meinten sie in der Regel den freien Grundriss. Die Bauhaus-Entwürfe waren sehr zweidimensional, nur Le Corbusier wagte sich etwas in die Dreidimensionalität. Diese Möglichkeit wurde erst in der Postmoderne voll ausgeschöpft. Neben dem Mangel an Vielfalt möchte ich gerne auf die Forderung nach Transparenz und Flexibilität zu sprechen kommen. Unter klimatischen Gesichtspunkten können wir erst heute die Bauhaus-Forderung nach mehr Licht erfüllen, weil wir dank neuer Technologien die bestehende Überdosis an Solarenergie klug einsetzen können. Ähnliches gilt für veränderbare Architektur, die dank BIM viel leichter zu konstruieren ist.

Bauhaus-Direktor Hannes Meyer sprach 1926 davon, dass „unsere Wohnung mobiler denn je wird“, was wiederum den Lokalbegriff der Heimat untergräbt.
Die Interpretation von Meyer ist visionär. Ich frage mich, wie wir dieses Bauhaus-Erbe kreativ fortführen können. Deswegen komme ich nochmals auf die Vielfalt zurück: Ich mag nicht nur Vielfalt in der Architektur, sondern auch unter Menschen. Vielfalt ist ein Schatz, den es zu hüten gilt, sie ist ein Symbol für Freiheit. Sie lässt sich nicht nur auf der Ebene der Individuen beobachten. Als jemand, der berufsbedingt viel reist, beobachte ich, wie vielfältig auch Städte und Gesellschaften sind.

Die Frage ist, wie wir als Architekten mit diesen Sachverhalten umgehen. Wie könnte ein „light urbanism“ aussehen, der den gewandelten Bedürfnissen der Menschen besser entspricht? Und wie eine „light“-Version des Reisens – eine Variante, die sich weniger auf den Klimawandel auswirkt? Wenn wir von diesen Tendenzen ausgehen, dann wirken „Immobilien“ und das „Immobile“ immer noch wie starke Barrieren. Der Wert des „befreiten Wohnens“ bedeutet für mich heute: Viele Dinge, die uns umgeben, sind noch zu hart und widerständig. Wenn Materialien und Wertstoffe schnell und einfach recycelt werden können, dann hilft das den Menschen, sich von unnötigem Ballast zu befreien.

Auch Walter Benjamin brandmarkte die Höhlenbehausungen der Gründerzeit und hoffte im Sinne von Nestwohnungen, die Moderne könnte endlich Architektur für den mobilen Menschen hervorbringen.
Ja, und das obwohl damals die Menschen höchstens drei bis viermal in ihrem Leben umgezogen sind. Vor zehn Jahren lag der weltweite Durchschnitt schon bei sieben, heute liegt er bereits bei elf Mal. Dass die Menschen zusehends zu Nomaden werden, führt zu einer psychologischen Neubewertung des Heims. Gleichzeitig ändert sich die Einstellung zu Besitz und Materialität, die nicht mehr – Stichwort Sharing Economy – als Konstanten verstanden werden. Dieser Wandel führt dazu, dass in unserer Kultur temporäre Tendenzen stark zunehmen. Und das verstärkt die Bereitschaft der Menschen, sich ein „Nest“ zu bauen, einfach weil es die „leichteste“ Art des Wohnens ist. Wir Architekten können diese Entwicklung unterstützen, indem wir Wohnungen vermehrt auf eine Weise errichten, die ihre Veränderung erleichtert.

Zum Abschluss noch unsere Bauhaus-Frage: Gropius, Meyer oder Mies, welchen der drei Direktoren schätzen Sie am meisten?

Mies, aufgrund seiner poetischen Direktheit.

Fotos:
Barbra Verbij, Rob 't Hart

Dieses Interview ist eine gekürzte und ergänzte Fassung eines Gesprächs, das kürzlich in Klaus Englerts Buch „Wie wir wohnen werden“ (Reclam Verlag, Stuttgart 2019) erschienen ist.


www.reclam.de