Die Bodenfrage ist die große Welle des Gegenwartsinteresses, die auch den Schweizer Stadtplaner, Autor und Theoretiker Hans Bernoulli (1876–1959) wieder auf unsere Tische spült. Und so beginnt diese erste, umfassende Monographie zu Bernoullis Gesamtwerk mit dem Beitrag „Stadtbild und Bodenfrage“, in dem Bernoullis Auseinandersetzung mit dem Thema untersucht wird. Das ist zunächst schade, bekommt doch der Rezensent gleich das Gefühl, dass der Blick auf eine interessante, facettenreiche Persönlichkeit allzu stark durch die Brille des Zeitgeistes gelenkt wird. Zum Glück ist das dann aber nur der erste Eindruck.
Das von Sylvia Claus und Lukas Zurfluh herausgegebene Buch erweist sich als umsichtige, breit gefächerte Publikation, die eine gute Übersicht über Bernoullis Gesamtwerk bietet – sowohl das gebaute als auch das ideelle – und gleichzeitig an einigen Stellen in die Tiefe bohrt. Von Bernoullis Arbeiten in Berlin und Brandenburg folgt man den Autor*innen in neun Essays zu Bernoullis Begräbnisarchitekturen und nach Basel, zur behutsamen Erneuerung der Altstadt, zu seinen Kleinhäusern und zu seiner Beteiligung an Wiederaufbauplanungen nach dem Krieg, etwa für Warschau. Im Anschluss folgt ein vollständiges Werkverzeichnis, wobei satte 52 Projekte noch einmal ausführlich mit eigenen Texten ausgebreitet werden.
Vervollständigt wird das Ganze durch zwei wunderbare Fotostrecken, die Bernoullis Häuser aktuell abbilden und in denen gut zu sehen ist, wie unterschiedlich die Gebäude altern durften. Es ist ein im positiven Sinne erschöpfendes, rundum empfehlenswertes Buch, das Bernoulli in allen seinen Facetten ausleuchtet, die Einzelprojekte würdigt und gleichzeitig in einen größeren Kontext zu setzen versteht.
Dazu gehört natürlich auch die von Bernoulli immer wieder thematisierte Bodenfrage. Er plädierte unbedingt dafür, die öffentliche Hand solle Land sukzessive aufkaufen und selbst bewirtschaften oder im Erbbaurecht vergeben. Ein Radikaler war Bernoulli nicht, und dennoch verlor er 1939 seine Professur an der ETH Zürich mit dem nur aus heutiger Sicht amüsanten Verweis, er habe ja keine Wirtschaftsprofessur inne und kümmere sich um fremde Angelegenheiten. Eine offizielle Beschneidung von Architektur und Städtebau auf das reine Entwerfen also, die heute unvorstellbar kleingeistig wirkt und vielleicht zeigen kann, wie wichtig diese Grundlagenarbeit von Bernoulli und anderen war, denen stets das „größere Bild“ im Beruf und in der Lehre wichtig war. Das wird mit diesem Buch sehr klar.
Es gibt nur einen kleinen Wermutstropfen und das ist die Abwesenheit von Bernoullis eigenen Texten und seiner eigenen Sprache. So wird hier zwar viel über ihn geschrieben und zum Beispiel seine Arbeit als Chefredakteur der Zeitschrift „Werk“ 1927–29 von Bruno Maurer erörtert. Auch findet sich eine Publikationsliste im Anhang. Aber Bernoullis eigene Texte werden stets nur indirekt zitiert und analysiert. Dies ist die Schwäche eines Buchs, das nie müde wird, die Bedeutung von Schrift, Theorie und Lehre in Bernoullis Werk zu betonen.
Hätte es den Rahmen wirklich gesprengt, eine kleine Auswahl von Bernoullis Texten ins Werkverzeichnis zu integrieren und seine Schriften dadurch auf Augenhöhe mit den Projekten zu stellen? Aber das mag natürlich auch nur die Perspektive des Rezensenten sein, der sich selbst dem geschriebenen Wort verpflichtet sieht. Der Wermutstropfen schmälert im Übrigen den großen Genuss an diesem weit- und scharfsichtigen Buch nicht.
Text: Florian Heilmeyer
Städtebau als politische Kultur. Der Architekt und Theoretiker Hans Bernoulli
Sylvia Claus und Lukas Zurfluh (Hg.)
384 Seiten
gta Verlag, Zürich 2018
ISBN 978-3-85676-353-4
78 Euro
Nachtrag: Die Herausgeber haben uns darauf verwiesen, dass dem oben angesprochenen „Wermutstropfen“ abzuhelfen ist. Es gibt eine kostenlose, allerdings online gut versteckte, digitale Schwesterpublikation mit einer kommentierten Auswahl von Hans Bernoullis Texten.