13.08.2025

Ein Glashaus, das seine Nachbarn stützt

Baustellenbesuch in Reutlingen mit wulf architekten und str.ucture

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In Reutlingen entsteht derzeit ein stadthistorisches Museum, das sich selbst ausstellen wird. Es zieht in zwei Fachwerkhäuser aus dem 14. Jahrhundert. Sie waren vom Abriss bedroht, doch nun realisieren wulf architekten gemeinsam mit str.ucture einen angrenzenden Holzneubau, der sie statisch stützt. Unser Autor hat die Baustelle besucht.

Von Christian Brensing


Schon vor der Eröffnung des neuen stadthistorischen Museums in der Innenstadt von Reutlingen im November 2025 zieht dessen Baustelle neugierige Besucher an. So etwa im vergangenen Mai, als sie am bundesweiten Tag der Städtebauförderung erstmalig für die Öffentlichkeit zu besichtigen war. Oder jüngst, als im Beisein und unter tatkräftiger Mitwirkung des Oberbürgermeisters von Reutlingen der neue Lehmboden im historischen Keller gestampft wurde, über dem der Holzbau errichtet wird.

Das Museum wird direkt neben dem Heimatmuseum in der Reutlinger Oberamteistraße einziehen und sich gewissermaßen selbst ausstellen. Denn der Bestand war ursprünglich eine Fachwerkzeile von drei Wohngebäuden aus dem 14. Jahrhundert. Eines davon, das „Steinerne Haus“, wurde Anfang der 1970er Jahre abgebrochen. Auf dem trapezartigen Grundriss (circa 13 mal 13 Meter) entsteht nun über dem historischen, offen gelassenen Kellergewölbe ein Neubau. Das Stuttgarter Büro wulf architekten hatte den Wettbewerb 2017 gewonnen. Während sie das Gesamtkonzept entwickelten, übernahm Ingenieurbüro Grau aus Bietigheim-Bissingen die statische Durcharbeitung der Altbauten. Die Tragwerksplanung für den Neubau liegt beim Stuttgarter Ingenieurbüro str.ucture (beide Stuttgart). Die Baukosten für den Neubau werden derzeit mit 7,2 Millionen Euro angegeben.

Fachwerk stützt Fachwerk

Mit einer komplexen Struktur aus heimischen Hölzern interpretieren die Planer*innen hier einen zeitgenössischen Fachwerkbau. Die Kubatur des Neubaus entspricht exakt der des verlorenen „Steinernen Hauses“ und macht das Museum im erhaltenen Bestand überhaupt erst möglich. Er fungiert als statische Stütze der Altbauten, was an den zwei konstruktiven Ebenen des Tragwerks abzulesen ist. Zuvor hatte den beiden historischen Fachwerkhäusern der Abriss gedroht, nun werden sie von strebewerk architekten (Stuttgart) denkmalgerecht instandgesetzt. Zudem wird der Neubau den Bestand als großzügiger Treppenraum vertikal erschließen und das Museum als zusätzlicher Veranstaltungsort programmatisch komplettieren.

Seit dem Richtfest im November 2024 zeichnet sich die markante städtebauliche Gestalt des Baus ab. Insbesondere seine glitzernde Bekleidung aus gläsernen Biberschwanzdachziegeln wird das künftig noch betonen. Fassade und Dach sind homogen, fast wie mit Fischschuppen von dieser gussgläsernen Eindeckung überzogen. Die Hülle soll das Haus und sein Inneres verschwommen erscheinen lassen, so wulf architekten – wie eine Erinnerung derer, die das alte Gebäude noch kannten.

Der Innenraum ist über Fugen von drei Zentimetern zwischen den Dachziegeln natürlich belüftet und entraucht. Somit verfügt der Museumsbau über keine thermische Isolierung oder Schallschutz und bleibt daher vollständig unbeheizt. Dach und Fassade bilden lediglich einen Sicht- und Wetterschutz. Die Objekthaftigkeit wird ferner auch dadurch betont, dass die 830 Quadratmeter umfassende Außenhaut keinen straßenseitigen Eingang, Fenster oder sonstige Öffnungen hat. Obwohl der transzluzente Baukörper die vertikale Erschließung der Häuserzeile übernimmt, erfolgt der Zutritt über das Nachbargebäude. Dass die Reutlinger Bevölkerung dem Bau schon jetzt den Namen „Gläsernes Haus“ in Anlehnung an das „Steinerne Haus“ verliehen hat, ist keine Überraschung.

Auf der Baustelle des Gläsernen Hauses

Der Baustellenbesuch im Juni 2025 offenbarte wesentliche architektonische und konstruktive Details, die gerade in diesem Ausbaustadium besonders gut erkennbar sind. Der Urzustand von Konstruktion und Raum – noch ohne jegliche gebäudetechnische Installationen – liegt quasi vollständig einsehbar vor. Allerdings ist auch schon abschätzbar, wie beispielsweise das von Außenwänden und Dachflächen einfallende Tageslicht den 2.200 Kubikmeter großen, weitgehend unverbauten Innenraum, der sich vom Keller aus in 20,50 Meter Höhe erstreckt, prägen wird. Auch wird die Präzision des offenliegenden, geometrisch-räumlichen Fachwerks deutlich.

Momentan geht die Faszination weitestgehend vom Tragwerk und dessen Eindeckung aus. Hier kann man nachvollziehen, wie traditionelles Zimmermanns- und Dachdeckerhandwerk in Symbiose mit modernsten Planungs- und Fertigungstechniken übereinkommt. Das Raumfachwerk aus Schwarzwälder Weißtanne, mit Strebenlängen von 2,80 bis 3,50 Meter, hat fast immer gleiche Querschnitte von 20 mal 20 Zentimetern auf allen sechs Geschossebenen, die jeweils circa 2,50 Meter hoch sind. Es bildet Dreiecke, die effizient die Zug- und Druckkräfte aufnehmen, auch die der Nachbargebäude im Erdbebenfall. Ein Zugring ist auf jeder Geschossebene angeordnet. In der Traufebene fungiert dieser als liegender Fachwerkträger zur Aufnahme der Schubkräfte aus dem Dach.

Die gläserne Biberschwanzeindeckung liegt auf einer dreischichtigen und graduell abnehmenden Unterkonstruktion aus sich überlagernden Holzstreben, die wiederum auf dem Primärtragwerk verschraubt ist. Da die Dachfläche aufgrund ihrer divergenten First- und Traufkanten ein hyperbolisches Paraboloid bildet, war eine parametrische 3D-Planung notwendig. Diese ging später in ein zentrales Open-BIM-Tragwerksmodell über. 

Parametrische Tragwerksplanung

Für das hochkomplexe Tragwerkskonzept wurden laut str.ucture „die geometrischen Eigenschaften der Strebenverschnitte in den Knoten und den lastabtragenden Details in zwei getrennten Teilprozessen geplant.“ So habe das Team von wulf zunächst den sichtbaren, räumlich wirksamen Teil des Tragwerks gestalten können. Im Anschluss wurde die Konstruktion mit Blick auf die konkreten statischen Anforderungen parametrisch programmiert. Da die Planer*innen mit einer erweiterten Ausführungsplanung von der Bauherrschaft beauftragt wurden, konnten sie die Detaillierung des Holzbaus bereits bis zum Abbund der einzelnen Elemente vorantreiben. Dies vereinfachte und beschleunigte etwa die Werkstattplanung durch die ausführende Holzbaufirma Amann

Über 200 Knotentypen umfasst das Tragsystem. „Die Datengrundlage aller Details und Verbindungsmittel“ konnte man über den „Abgleich der statischen Berechnungsmodelle zentral verwalten“ und stets anpassen, erklären str.ucture weiter. Die horizontalen Elemente sind als Durchlaufträger ausgeführt. Die diagonalen Streben werden über sogenannte Knaggen angeschlossen, die Projektleiter Stephan Burger von wulf anschaulich als „Baubuchen-Findlinge“ beschreibt, da das Laubholz größere Lasten aufnehmen kann. Sichtbar wollten sie derlei Details allerdings nicht machen, so der Architekt – um die Raumwirkung des Fachwerks in den Vordergrund zu stellen.

Selten kann ein Neubau das Versprechen, das er noch als Rohbau abgibt, einhalten. Rohbauten faszinieren durch ihre Direktheit – Struktur und ästhetische Form sind in diesem Zustand oft gleichbedeutend. Dem gläsernen Haus in Reutlingen könnte das auch nach seiner Fertigstellung gelingen. Gestaltung und Konstruktion sprechen die gleiche Sprache: Sie verweisen auf die Tradition des Fachwerks, stellen aber gleichzeitig ihre innovative Herstellungsweise zur Schau.

Fotos: Brigida González, Melissa Acker