29.06.2018

Kugel-Café auf Werkshallendach

Baustellenbesuch bei Oscar Niemeyer in Leipzig

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Auch wenn es so aussieht, die Kugel ruht nicht auf dem Altbau, sondern auf dem neu betonierten Erschließungsschaft. Foto: Dirk Dähmlow

Von Friederike Meyer

Die Spinnereistraße in Leipzig-Plagwitz ist Kunstfreunden ein Begriff. In der ehemaligen Baumwollspinnerei haben viele bekannte Galerien ihren Sitz, gleich neben den Ateliers der Produzenten. Ab 2019 kommt auf dem Gelände der Kirow-Werke am Ende der Straße eine neue Attraktion hinzu. Auf dem Dach einer der Werkshallen des Eisenbahnkranherstellers wird derzeit eine Erweiterung der Betriebskantine nach Plänen von Oscar Niemeyer gebaut. Richtig, nach Plänen des 2012 verstorbenen brasilianischen Architekten, den der Kirow-Werksgeschäftsführer und Kunstliebhaber Ludwig Koehne ein Jahr vor dessen Tod besucht, und um einen Entwurf gebeten hatte. Mitte Juni fiel die Gerüstplane. Architekt Harald Kern zeigte Friederike Meyer, was Niemeyer sich ausgedacht hat.

Eine Skulptur aus weißem Beton sitzt innerhalb eines Backsteinensembles aus dem 19. Jahrhundert über der Dachecke eines alten Dampfkesselhauses, in dem die Betriebskantine untergebracht ist. Von weitem ist sie als werdende Kugel erkennbar, die großen Glasflächen fehlen allerdings noch. Eine Café-Bar und eine Lounge sollen darin entstehen, mit Zugang zur neuen Dachterrasse auf dem Backsteinbau. „Statisch wird bei der Kugel – mit ihren 12 Meter Durchmessern – später alles miteinander verbunden sein. Auch die geschwungene Treppe trägt mit“, erklärt  Harald Kern, der mit und unter Federführung von Jair Valera, Oscar Niemeyers langjähriger rechter Hand, den Entwurf bis zur Ausführungsplanung fortführte und diese umsetzt.

Derzeit wartet die Baustelle auf die Stahlglasfassade, an der sich inzwischen die dritte Firma versucht. Es ist keine leichte Aufgabe, die zwei großzügigen geschwungenen Glasausschnitte, die aus Geodäten mit Dreiecksunterteilung bestehen, nach deutschen Sicherheitsvorschriften so auszuführen, dass die äußere Erscheinung der Pate stehenden, kristallinen Kuppelverglasung des „Torre du TV digital“ in Brasilia aus dem Jahr 2012 gleicht. Eine weitere Schwierigkeit war, ohne ständige Verschattung Sonnenschutz zu gewährleisten. „Mit der Firma Merck haben wir einen passenden Partner gefunden“, sagt Kern. „Merck bringt gerade ein Liquid Crystal-Glas auf den Markt, das auf Knopfdruck verschatten kann. Die Kristalle schalten in Echtzeit und sind in fast jeder Farbe erhältlich.“ So gibt es Alternativen zur blaubraunen Matschfarbe, die derartige Gläser unbeliebt macht.

Auch wenn es aussieht, als sei die Kugel wie ein Schneeball auf die Dachecke gedrückt: Sie lastet nicht auf dem Bestand, sondern auf einem neu betonierten Erschließungsschaft. Ihre Konstruktion hat wenig Ähnlichkeit mit Ulrich Müthers Schalenbauten, für die er Spritzbeton verwendete, oder mit den logischen Tragformen wie sie Frei Otto entwickelte. Niemeyers Kugel zeigt aber, was in 3D heute planbar, berechenbar und baubar ist.

Die Herausforderung liegt auch in der Qualität der Betonoberfläche: So glatt und so weiß wie möglich soll sie werden. Das wünscht sich der planende Architekt aus Brasilien und traut den Deutschen Handwerkern da deutlich mehr zu als seinen Landsleuten, erzählt Kern. Wer sich die Schalbilder ansieht, kann tatsächlich auf die Idee kommen, dass hier ein Niemeyer-Bau entsteht, der perfekter als seine Vorbilder in Brasilien ist. Dafür habe man unter anderem die Schalungshautbehandlung und die Armierungsführung vorab an einem Probesegment getestet. Die Bewehrung wurde schwarz, also unoxidiert, frisch vom Werk eingebaut. Sie sowie auch die empfindliche Schalung mussten bis zur Betonage vor Feuchtigkeit geschützt werden, so dass unter einem verfahrbaren „Cabrio“-Gerüstdach gearbeitet wurde.

Demnächst beginnt der Innenausbau. Die Kugel wird von innen mit Schaumglasplatten gedämmt. Auf der Lounge-Ebene wird eine gekrümmte Wand entstehen, die mit blau bemalten Azulejos verziert sein wird. Zwei „Strandschönheiten“ von Oscar Niemeyer sollen diese Keramikfliesen aus portugiesischer Tradition zeigen. Bereits seit mehreren Jahren kommen die Leute aus der Baumwollspinnerei in die Kirow-Kantine und essen mit den Arbeitern. Künftig werden sie hier auch abends ein Getränk und Speisen zu sich nehmen können. Von oben wird ihr Blick dann nicht nur auf Leipzig-Grünau und die Landschaft der Industriehallendächer des Kirow-Werkes fallen, sondern auch auf die Plaza am Werkseingang. Sie wird vom Büro des großen, 1994 verstorbenen Roberto Burle Marx gestaltet, das in dritter Generation von Isabela Ono, Gustavo Leivas und Júlio Ono weitergeführt wird. Vielleicht werden sich die Gäste dann wirklich ein bisschen wie in Brasilien fühlen.

Fotos: Dirk Dähmlow