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17.09.2020

Biodiversität und Gemeinwesen

Tim Rieniets über die Ausstellung Urbainable - Stadthaltig in Berlin


In der Akademie der Künste ist derzeit die Ausstellung „urbainable – stadthaltig. Positionen zur europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert“ zu sehen. Die Kuratoren Tim Rieniets, Matthias Sauerbruch und Jörn Walter versammeln 34 Positionen, die mit zeitgenössischen Projekten Beiträge für eine zukunftsfähige Stadt liefern. Alexander Stumm sprach mit Tim Rieniets über Nachhaltigkeit, Europa und die Auswirkungen der Coronapandemie auf unsere Städte.

Urbainable – stadthaltig. Diese zwei Neologismen bilden den Titel der Ausstellung. Was hat es damit auf sich?
Tim Rieniets: Ja, diese Frage stellt sich direkt. Zum einen ging es uns um genau diesen Irritationsmoment, der Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich aber möchten wir zum Ausdruck bringen, dass es für die von uns fokussierte Thematik keinen geeigneten Begriff gibt. Konkret geht es um die vielen Eigenschaften von Städten, die es ihnen ermöglichen, große Herausforderungen und Krisen zu bewältigen. Eine eindeutige Definition von „Stadt“ oder „Nachhaltigkeit“ liefern wir aber bewusst nicht. Es liegt in der Freiheit der Betrachter*in, den Begriff mit Inhalten zu füllen.

Ein Großteil des Rohstoffverbrauchs ist der Bauindustrie zuzuschreiben. Die Frage des Materials ist also zentral für nachhaltiges Bauen. Welche Lösungsansätze zeigt die Ausstellung in dieser Hinsicht auf?

In der Ausstellung sind Projekte zu sehen, die sich auf drei Arten diesem Problem nähern. Erstens werden alternative beziehungsweise traditionelle Materialien wie Holz oder Lehm wieder wichtiger. Zweitens gibt es Tendenzen, gängige Materialien innovativ weiterzuentwickeln. Ich denke hier zum Beispiel an die Bauteile aus Gradientenbeton, die von Regine Leibinger und Werner Sobek ausgestellt werden: Die Materialeigenschaften dieser Bauteile werden entsprechend der Belastung stufenlos angepasst. So kann mit deutlich weniger Material die gleiche Tragfähigkeit erreicht werden. Dritter Punkt ist die Überlegung, gar nicht beziehungsweise nur mit schon vorhandenen Mitteln zu bauen.
Aber keiner dieser drei Wege wird alleine zum Ziel führen, es geht um das sinnvolle Zusammenspiel. Nur so können die Nachhaltigkeitsziele erreicht werden.

Die Ideen sind also da, dennoch passiert noch viel zu wenig. Brauchen wir mehr Aktionismus unter Architekt*innen, zum Beispiel wie die Deklaration des Klima- und Biodiversitätsnotstands im vergangenen Jahr? Oder gilt es, die Politik stärker in die Pflicht zu nehmen und auf legislativer Ebene anzusetzen?

Zum Stichwort Biodiversität hinterfragen wir in der Ausstellung einige Gemeinplätze. Städte sind nämlich alles andere als naturfeindlich, die Artenvielfalt ist hier sogar höher als auf dem Land. Zweifellos aber ist zu konstatieren: Die Bauindustrie hat sich in den letzten 100 Jahren zu dem mit Abstand ressourcenintensivsten Wirtschaftszweig entwickelt. Pro Jahr werden ungefähr 600 Millionen Tonnen Rohstoffe verbaut und 200 Millionen Tonnen Bauabfälle produziert. Das ist eigentlich ein Skandal! Hier kann man aber nicht den Architekt*innen allein die Schuld in die Schuhe schieben. Die Politik scheint dieses Problem noch gar nicht erkannt zu haben. Nur wenn sie Schranken aufbaut, können wir diese Tendenzen tatsächlich umkehren.

Der Fokus der Ausstellung ist ein dezidiert europäischer. Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die europäische Stadt im 21. Jahrhundert von anderen Städten? Kann man von genuin europäischen Qualitäten sprechen?

Die „Europäische Stadt“ ist ein ideologisch aufgeladener, ja umkämpfter Begriff, deswegen möchte ich mich da gar nicht so weit hineinwagen. Nach meiner Auffassung sind die Grenzen sehr fließend, der Begriff ist in der Ausstellung nicht territorial gedacht. Dennoch gibt es Eigenarten von Städten in Europa. Zum einen baulich: In der Höhe, der Dichte, der Mischung von Funktionen. Neben typologischen oder morphologischen Unterschieden ist der wichtigste Unterschied für mich aber das Gemeinwesen dieser Städte, das sich dadurch auszeichnet, dass es die Interessen der Allgemeinheit vor den Interessen des Einzelnen schützt. Ganz im Gegensatz zu Städten in vielen anderen Weltregionen, in denen segregierte Wohnformen wie Gated Communities aus dem Boden schießen, in denen nur die Interessen des Einzelnen zählen. In mitteleuropäischen Städten ist das kaum und bspw. in Berlin gar nicht vorstellbar – zumindest nicht ohne direkte Reaktion in Form von Protesten. Dieses Gemeinwesen gilt es unbedingt zu verteidigen.

Das Kuratorenteam sieht die Dichte in der Stadt als einen der maßgeblichen Faktoren für Nachhaltigkeit. Steht aber nicht genau dieses Konzept vor dem Hintergrund der Coronapandemie ganz neu auf dem Prüfstand?

Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Der Fachdiskurs ist ja auch ein Marktplatz der Eitelkeiten und neigt dazu, Positionen zu verkünden, die noch nicht fundiert werden können. Es hängt meines Erachtens maßgeblich damit zusammen, wie lange uns die Krise noch im Griff hat. Wenn wir sie mit einem Impfstoff im nächsten Jahr hinter uns lassen können, wage ich zu behaupten, dass alles so bleibt, wie es davor war. Von ein paar kleinen Ausnahmen abgesehen: Die Großraumbüros werden womöglich weniger nachgefragt. Und die Krise des Einzelhandels in den Innenstädten – die uns aber auch schon vor Corona beschäftigt hat – wird stärker zu spüren sein. Falls die Coronapandemie länger andauert, werden sich bestimmte temporäre Maßnahmen womöglich verstetigen. Aber das wird erst die Zeit zeigen können.

Ausstellung:
5. September bis 22. November 2020
Ort: Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin

Zur Ausstellung erscheint der Katalog „urbainable – stadthaltig. Positionen zur europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert“
Hrsg. von Tim Rieniets, Matthias Sauerbruch, Jörn Walter, Akademie der Künste, Berlin


ArchiTangle, Berlin 2020
224 Seiten, 300 Abbildungen
ISBN 978-3-88331-240-8
Preis in der Ausstellung € 30, im Buchhandel € 38

BauNetz ist Medienpartner der Ausstellung.


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Tim Rieniets, Kurator der Ausstellung urbainable – stadthaltig in der Akademie der Künste.

Tim Rieniets, Kurator der Ausstellung urbainable – stadthaltig in der Akademie der Künste.







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