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20.12.2023

Buchtipp: Vorsicht auf dem Wendehammer!

Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949 bis 1989


Die Deutschen und ihr Autofetischismus sind immer wieder erstaunlich. Welches Land sonst gibt „Freie Fahrt für freie Bürger“ als nationale Parole aus, an der sogar Landesregierungen wie Rot-Rot-Grüne in Berlin vor einigen Monaten scheiterten. Sie hatten, politisch totalignorant, unmittelbar vor den Wahlen die Friedrichstraße für den Autoverkehr sperren lassen. Verkehrstechnisch war diese Schließung irrelevant, symbolisch ein massiver Angriff auf FFFFB – der entsprechend von den Wähler*innen beantwortet wurde. Was vielen Amerikanern ihr Gewehr, ist vielen Deutschen eben ihr Auto. Ein Land, in dem Gerichte erst dann der Einrichtung von 30er-Zonen in Innenstadtbezirken zustimmen können, wenn ihnen Verkehrstote quasi auf dem Tisch liegen.
 
Es ist eine Fixierung, die man an Hand der phänomenalen Dokumentation Vorsicht auf dem Wendehammer! Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949 bis 1989 des Berliner Architekturkritikers und Bauwelt-Redakteurs Ulrich Brinkmann einmal mehr zeitgeschichtlich nachvollziehen kann. Ein mit Verve geschriebenes, brillant mit Postkarten illustriertes Schreckenspanorama des Stolzes der Deutschen in Ost wie West auf die autogerechte Stadt, Altstadtabrisse und Neubauten. Das Buch sollte in jedem Stadt-, Landschafts- und Architekturplanungsbüro liegen. Es ist ein ideales Weihnachtsgeschenk für Moderne-Begeisterte wie Moderne-Müde – so wie bereits der schnell vergriffene Vorgänger Achtung vor dem Blumenkübel über die deutschen Fußgängerzonen (2022) und der unmittelbar eben jetzt vor Weihnachten herausgekommene Folgeband Obacht an der Wäschespinne zur Kultur der deutschen Vorstadtsiedlungen.
 
Alle drei Bücher bauen auf der offenbar gigantischen Postkartensammlung Brinkmanns auf. Postkarten sind eine grandiose historische Quelle. Denn sie dokumentieren die Veränderungen von Landschaften, Städten und Bauten teils im Jahresabstand genau und zeigen damit detailliert, was eine Gesellschaft als wichtig für ihr Selbstverständnis betrachtet. Das Medium ist nämlich radikal abhängig von den Interessen der Kundschaft: Wenn die Nachfrage sinkt, werden die Motive sofort verändert oder aus dem Verkehr gezogen.
 
Nehmen wir den Stuttgarter Charlottenplatz und den Österreichischen Platz. Was war man in der Porsche- und Mercedes-Stadt stolz auf die verschlungene Kombination von Autostraßen und -unterführungen, Tram- und U-Bahntunnels, Tiefgaragen und den dazwischen geklemmten Bürgersteigen samt Abstandsgrün. Alle Kunst der Postkartenfotografie wurde genutzt, um auch noch das „amerikanische“ Hochhaus mit abbilden zu können. Diese Anlagen sind, wenn man sie mit ausreichend Abstand betrachtet, durchaus Kunstwerke. Wie da die Linien gleiten, die Autos rauschen (Staupostkarten scheint es übrigens nicht zu geben…), die Schatten präzise die Kurven nachziehen – das ist herrlich schrecklich.
 
Deutlich wird aber auch – und das ist wohl die größte Leistung dieser drei Bände –, dass die Fixierung auf den Autoverkehr die Planung in der DDR genau so wie in der viel reicheren Bundesrepublik dominierte. Vor dem Rostocker Kröpeliner Tor werden die Karosserien ebenso inszeniert wie in der Innenstadt von Salzgitter-Lebenstedt. Kreise, Altstadtringe, Zufahrtsachsen, Abfahrten, in zwei und drei Ebenen angelegte Straßen – man war einmal sehr, sehr stolz darauf. Und dass so viele Verteileranlagen vor den Innenstädten „Europa-“, „Bundes-“ oder „Berliner Platz“ heißen, ist nur aus heutiger Sicht diffamierend. Gedacht waren diese Benennungen einstmals als Ehrung.

Text: Nikolaus Bernau


Vorsicht auf dem Wendehammer! Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und Bundesrepublik 1949 bis 1989
Ulrich Brinkmann

288 Seiten
DOM publishers, Berlin 2023
ISBN 978-3-86922-554-8
28 Euro


Zum Thema:

Unter ganz anderem Vorzeichen widmet sich auch Kunsthistoriker Erik Wegerhoff dem Thema Auto. In seinem eben erschienenen Buch Automobil und Architektur geht er dem „kreativen Konflikt“ dieser beiden Spharen nach – und spannt dabei den Bogen von Le Corbusier bis Peter Zumthor.


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