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10.02.2021

Buchtipp: Utopie und Individuum

Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika


Elf Jahre ist es her, dass Christoph Schlingensief den Kampf gegen den Lungenkrebs verloren hat. Anlässlich seines 10. Todestags erinnerten im vergangenen Sommer ein (unbedingt empfehlenswertes!) Filmportrait und die Publikation einer Auswahl von Gesprächsprotokollen an den Filmemacher und Künstler. Mit etwas Verzögerung brachte Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz, die den Nachlass Schlingensiefs verwaltet und auch schon die beiden oben genannten Werke in Auftrag gegeben hatte, mit Spector Books im Herbst ein weiteres Buch heraus, das versucht, sein letztes großes und immer noch andauerndes Projekt zu fassen: Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika.

Sicher kein einfaches Unterfangen, denn die Idee ist gewissermaßen „larger than life“ – eine Oper, mitten in der Savanne Burkina Fasos, ein paar Kilometer südlich der Gemeinde Ziniaré. Vor allem ist es eben kein repräsentatives Showgebäude, wie man es sich im Luxusviertel Ouaga 2000 der nahen Hauptstadt Ouagadougou vorstellen könnte. Sondern ein Opernhaus, dessen Konstruktion die Dekonstruktion sowohl des Konzepts „Oper“ als auch des westlichen Überlegenheitsdenkens bedeutet: ein Festspielhaus als Begegnungsort, um das herum eine ganze Dorfstruktur erwächst und es damit erst komplettiert. Wo kreiert und kreativ diskutiert wird. Wo gelernt wird. Wo Kinder geboren werden und ihren ersten Schrei ausstoßen. Die Performance ist überall, das Leben die Kunst.

Dass das Projekt in die Hände anderer übergehen würde, die es auf ihre Weise prägen, war nicht die Folge von Schlingensiefs Tod, sondern grundlegender Teil seiner Vision. Dementsprechend ist es charmant und stimmig, dass die Publikation collagenhaft die Stimmen vieler Beteiligter zusammenbringt, von den ersten Skizzen bis heute. Marie Denise Compaoré, die Leiterin der Schulkantine, die seit dem Projektbeginn vor Ort dabei war, eröffnet das reich bebilderte Buch. Neben weiteren Berichten aus dem Alltag enthält der Band einen bisher nicht veröffentlichten Text von Schlingensief sowie Beiträge von Laberenz, Elfriede Jelinek, Sonja Lau – und natürlich Francis Kéré, in dessen Architektur und ihren Produktionsbedingungen Schlingensief eine Übersetzung seiner Vorstellung der sozialen Plastik ins Bauliche fand.

Vielleicht war es – und diese Frage stellte sich Schlingensief durchaus selbst – anfänglich nur ein touristisches Gefühl, ein Losgelöstsein von der eigenen Existenz und vom Ballast der eigenen kulturellen Herkunft, das er – von der Chemotherapie bereits stark geschwächt – in Ziniaré fand. Aber was er vorfand, bestärkte ihn darin, genau dort Energie und Geld zu investieren, ohne etwas dafür zu bekommen. Nicht karitativ zu arbeiten, nicht zu helfen, sondern in ein afrikanisches Afrika zu investieren.

Bei der Grundsteinlegung in Ziniaré am 8. Febuar 2010 setzte Schlingensief eine Metallbombe mit Bauplänen, aktuellen Tageszeitungen und einer belichteten Super-8 Spule von 1978 in den Boden. Seitdem sind Schule, Lehrer*innenwohnungen, Kantine, Tonstudio und Krankenstation in Betrieb. Das Kulturprogramm läuft seit 2012 und die „Schnecke“ Operndorf zieht immer weitere Kreise. Das Buch verfolgt den Weg des Operndorfs von der Utopie hin zu etwas real Existierendem. Und offenbart dabei auch alle vermeintlichen Verwässerungen der radikalen Vision, die seit dem Tod ihres Initiators entstanden. Es zeigt aber vor allem, wie viele unterschiedliche Menschen mit ihren ganz eigenen Biografien, ihren Interessen und ihren Fähig- aber auch Unfähigkeiten auf unterschiedlichen Ebenen andocken können, wenn es eine flammende Idee gibt.

Text: Kathrin Schömer

Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika

Aino Laberenz (Hg.)
Deutsch, Französisch, Englisch
448 Seiten
Spector Books, Leipzig 2020
ISBN 978-3-95905-363-1
36 Euro


Zum Thema:

Am morgigen Donnerstag, 11. Februar 2021 findet um 19 Uhr eine digitale Ausgabe des ARCH+ Salons zum kürzlich erschienen Buch statt. Aino Laberenz und Francis Kéré sprechen mit Anh-Linh Ngo (ARCH+) und Jan Wenzel (Spector Books) über die Entwicklung des Operndorfs. Teilnahme per Zoom oder Facebook (beides ohne Account nutzbar).


Zu den Baunetz Architekt*innen:

Kéré Architecture


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