RSS NEWSLETTER

https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Buecher_im_BauNetz_1492677.html

15.01.2011

Gentrifidingsbums

Bücher im BauNetz


Gentri-fi-zier-ung? Ein schwieriges Wort, hinter dem sich komplexe stadtsoziologische Prozesse verbergen. Gentrifizierung meint die schleichende Aufwertung heruntergekommener Innenstadtviertel. Der in Hamburg lebende Journalist Christoph Twickel hat über das Reizthema ein spannendes Büchlein geschrieben: „Gentrifidingsbums eine Stadt für Alle. Wie genau lässt sich das Phänomen erklären? Ist Gentrifizierung ein Prozess, den man so hinnehmen sollte, oder kann und sollte der aufgeklärte Stadtmensch etwas dagegen unternehmen? Das sind einige der Fragen, denen Twickel in seinem Buch nachgeht. Der Autor erzählt anhand persönlicher Geschichten, Interviews und scharfer Beobachtungen von der „Lattemacchiatisierung” deutscher Städte. So wird ein Thema, das sonst nur in soziologischen Wälzern nachzulesen ist, angenehm veranschaulicht.

Die sieben Kapitel und 120 Seiten sind mit Geschichten wie der von Inès gefällt. Die Kubanerin, die es für eine Weile nach Deutschland verschägt, wo sie das grofle Geld zu machen versucht. Sie fühlt sich wohl zwischen den Discount-Läden in der Groflen Bergstrafle einer sozialschwachen Gegend Hamburgs, die Stadtväter am liebsten aufwerten würden. Twickel erkennt Gentrifizierung hier als vermeintliche „Erfolgsstory, die man überall da zu implementieren versucht, wo sich soziale Problemzonen gebildet haben”. Und die sich dann vollzogen hat, wenn Eckkneipen mit vergilbten Gardinen oder Asia-Elektroschrott-Shops sich in kleine Designerläden oder Kaffeebars verwandelt haben.

Im Interview mit dem Künstler und Buchautor Christoph Schäfer („Die Stadt ist unsere Fabrik”) bleiben auch bekannte Größen der Stadtforschung wie der Architekturhistoriker Leonardo Benevolo, der Architekt Le Corbusier oder der Soziologe Henri Lefèbvre nicht unerwähnt. Schäfer, der das Hamburger Nachbarschaftsprojekt „Park fiction” mitentwickelte, sieht in der Stadt keinen Ort der Produktion für industrielle Waren mehr, sondern einen Ort, in dem Netzwerke produziert werden: „Das Café ist nicht mehr blofl ein Ort, an dem man Kaffee trinkt und Freunde trifft. Sondern ein Ort, wo Bedeutungen und Kontakte getauscht, Lebensstile geprägt werden.

„Künstler rein, Arme raus” – in Kapitel vier erklärt Twickel entlang von Hamburgs Stadtvermarktungsstrategien, die seit der Jahrtausendwende zur Bibel der Image Cities avancierte Theorie der Kreativen Klasse von US-Ökonom Richard Florida.

Wenn es um Stadtteilaufwertungen, Verdrängungsprozesse und die Kreativszene geht, darf natürlich das „Komm in die Gänge”-Projekt nicht fehlen. Die Künstlerbesetzung im historischen Hamburger Gängeviertel sieht sich gerade wegen ihrer Lage - mitten in der gläsernen City - als ein besonderes Symbol gegen Gentrifizierung. Im Gespräch mit einer Bildhauerin, einer Theatermacherin und einem freien Künstler, alle drei engagiert im Gängeviertel-Projekt, zeigt sich das Dilemma der Aktivisten: sie sind Gentrifizierungspioniere und damit auch Motor der Aufwertungsprozesse.In seinem Resümee rät Twickel diesen „bohemistischen Schuldkomplex” abzulegen, „einen klaren Kopf zu bewahren” und sich ganz in Ruhe seine „stadträumliche Situation” bewusst zu machen. Und trotzdem weiter zu machen.

Der Autor selbst geht voran: Im Anhang findet sich das von ihm mitverfasste Gängeviertel-Manifest „Not in our Name, Marke Hamburg!”. Eine Streitschrift, in der die Unterzeichner die Probleme der Kulturschaffen den beschreiben, Forderungen aufstellen und sich gegen die Finanz- und Imagepolitik der Stadt Hamburg aus sprechen.

Twickel legt in seinem Buch den Schwerpunkt auf eine Stadtentwicklung von unten – „Eine Stadt für Alle” eben. Dementsprechend ist auch sein Buch für eine breite Zielgruppe geeignet. Das in lebendigem Schreibstil verfasste schmale Buch dürfte auch Stadtplanern, Architekten und Urbanisten Spafl machen, die auf akademische Bandwurmsätze gerne verzichten. (Luise Rellensmann)

Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle
Christoph Twickel
Edition Nautilus, Verlag Lutz
Schulenburg, Hamburg 2010
128 Seiten, 9,90 Euro

Dieses Buch bei Amazon bestellen


Kommentare:
Meldung kommentieren


Alle Meldungen

<

09.03.2012

Megacity, Megaspiele, Megachancen?

Diskussionsabend in Berlin über Rio

14.01.2011

Der Architekt des Künstlers

BAUNETZWOCHE #205

>
baunetz interior|design
Rendezvous mit Prouvé
baunetz CAMPUS
Gründungsgeschichten
Stellenmarkt
Neue Perspektive?
BauNetz Themenpaket
Im Baltikum spielt die Musik