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24.06.2025

Buchtipp: Städtebau im Nationalsozialismus

Angriff, Triumph, Terror im europäischen Kontext 1933-1945


Pünktlich zum Gedenken an Kriegsende und Befreiung von der NS-Herrschaft vor 80 Jahren ist der von Harald Bodenschatz, Victoria Grau, Christiane Post und Max Welch Guerra herausgegebene Band Städtebau im Nationalsozialismus. Angriff, Triumph, Terror im europäischen Kontext 1933–1945 erschienen. Er komplettiert nach rund 25 Jahren breit angelegter Forschung eine wissenschaftliche Publikationsreihe zur Stadtbaugeschichte in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts – in der Sowjetunion, Italien, Portugal, Spanien und zuletzt Deutschland. 

Die fünf Bücher (von denen das erste zur Sowjetunion 2003 im Verlagshaus Braun und die vier folgenden bei DOM publishers erschienen sind) geben erstmals einen systematischen Überblick über die tragende Rolle des Städtebaus als diktatorisches Herrschaftsinstrument, indem sie Parallelen, Rivalitäten sowie nationale Besonderheiten herausarbeiten. Maßgeblicher Forschungsansatz war dabei, den internationalen Zusammenhang herzustellen und den nationalen Tunnelblick zu überwinden. Auch deshalb passte die Präsentation des Abschlussbands Städtebau im Nationalsozialismus perfekt in das europaweite Veranstaltungsprogramm zahlreicher Institutionen rund um das Gedenken an den 8. Mai 1945. 

Die Buchreihe basiert auf einem erweiterten Begriff des Städtebaus, der alle Arten von Bauwerken und Infrastrukturen umfasst. Demnach war der Städtebau ein wesentliches Instrument der NS-Diktatur zur Durchsetzung totalitärer Ideologien innerhalb und später jenseits der eigenen Grenzen. Dabei spielten auch die Produktionsprozesse eine wichtige Rolle. Städtebau diente dazu, die Bevölkerung zu mobilisieren, die Wirtschaft zu fördern, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot zu verringern, Bildung und Erziehung zu beeinflussen und ebenso dazu, ganze Gruppen sichtbar auszugrenzen. Mit seinen Bauprojekten demonstrierte der NS-Staat Stärke und Handlungsfähigkeit und trat bald auch in Konkurrenz mit anderen Ländern. Im Bauen vermittelte sich von Anfang an das gesellschaftspolitische Programm der Diktatur, Deutschland im nationalsozialistischen Sinn umzugestalten und den Krieg in Europa vorzubereiten.

Gegliedert ist der Band in drei Kapitel. Sie spiegeln die wechselnde Dynamik sich verändernder politischer Strategien, Programme und Akteure. Die Gliederung hilft, die enormen Verschiebungen, rasanten Entwicklungen und radikalen Themenwechsel im Städtebau innerhalb des letztlich relativ kurzen Zeitraums von zwölf Jahren zu verstehen. Die große Effektivität des nationalsozialistischen Städtebaus basiert auf anpassungsfähigen Strukturen mit zahlreichen neuen Organisationen und schnell gegründeten Sonderbehörden. Dagegen greift die „von der Baugeschichtsschreibung immer wieder hervorgehobene führende Rolle Adolf Hitlers als (Möchtegern-) Architekt, als Anstifter des Baufiebers und Dirigent des nationalsozialistischen Städtebaus zu kurz“, stellen die Herausgeber*innen klar.

Das erste Kapitel „Angriff“ umfasst die Jahre 1933–37. Es behandelt die Suche nach einem nationalsozialistischen Städtebau aus einem anfänglichen Legitimationsbedürfnis heraus und mit dem Ziel, die Massen zu mobilisieren. In diesem Zeitraum entstanden neue Räume und Plätze für Aufmärsche und Reichsparteitage, völkische Kultorte wie Ordensburgen und Thingstätten oder KdF-Freizeitprojekte, Schulen, Erziehungsanstalten, SS-Kasernen, Bauten für Marine und Luftfahrt. Zu den Themen jener Jahre zählen das Großprojekt Reichsautobahn, die Sanierung und „Entschandelung“ von Altstadtquartieren, der Bau ländlicher Kleinsiedlungen und die innere Kolonisation zur „Neubildung deutschen Bauerntums“. Von Anfang an waren „Lager“ (vom Jugendlager bis zum Zwangslager) samt ihrer kleinsten Einheit, der Baracke, eine gängige Typologie.

Hochinteressant ist es, die Planungen immer wieder im Vergleich mit Projekten zu sehen, die parallel unter Mussolini, Salazar, Franco oder Stalin entstanden. Besonders augenfällig wird die „Rivalität der Diktaturen“ erstmals bei der Pariser Weltausstellung 1937, als der von Albert Speer entworfene Pavillon für das nationalsozialistische Deutschland in Konfrontation mit den ebenfalls propagandistisch aufgeladenen Bauten der Sowjetunion und des faschistischen Italien trat.

Unter der Überschrift „Triumph“ widmet sich das zweite Kapitel den nationalsozialistischen Großplanungen zwischen 1937 und 1941. Um die deutsche Wirtschaft autark und kriegsfähig zu machen, wurden große Anlagen insbesondere der Rüstungsindustrie, Werkssiedlungen, neue Städte und riesige Kriegsinfrastrukturen wie der Westwall geplant. Vor dem Hintergrund fortschreitender Repression entstand ein ganzes System von Konzentrationslagern. Gleichzeitig wurde eine neue Stadtbaukunst propagiert, um mit den Entwicklungen in Rom oder Moskau mitzuhalten. Die sogenannten Führerstädte wie Berlin, Nürnberg, München oder Linz fielen unter das 1937 verabschiedete Neugestaltungsgesetz. Die ermöglichte, die Stadtzentren mit Achsen und Monumentalbauten massiv zu transformieren. 1941 wurden die Umbauten ausgesetzt und auf die Nachkriegszeit verschoben – zugunsten der Planungen für die Ostkolonisierung.

Das dritte Kapitel „Terror“ behandelt den Zeitraum 1941–45 und die gewaltsame Expansion in die besetzten Gebiete, um dort neuen „Lebensraum für die Volksgemeinschaft“ zu schaffen. Man plante die Neuordnung Europas, die Organisation Todt baute Kriegsinfrastrukturen wie den Atlantikwall und unterirdische Rüstungsfabriken. In der Nähe neu errichteter Industrieanlagen entstanden große Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager. Auch hier ist die kurze Darstellung des sowjetischen Gulag-Systems sowie von Internierungslagern anderer kriegsführender Staaten hilfreich – und keineswegs relativierend. Seinen brutalsten Ausdruck fand der nationalsozialistische Städtebau schließlich in den gründlich durchgeplanten Vernichtungslagern im besetzten Polen.

Mit Städtebau im Nationalsozialismus ist eine exzellente, vielschichtige und reich bebilderte Monografie erschienen, die ganz gewiss als Standardwerk begriffen werden kann.

Text: Ulrike Alber-Vorbeck

Städtebau im Nationalsozialismus. Angriff, Triumph, Terror im europäischen Kontext 1933–1945
Harald Bodenschatz, Victoria Grau, Christiane Post, Max Welch Guerra (Hg.)
624 Seiten
DOM publishers, Berlin 2025
ISBN 978-3-86922-635-4
128 Euro 

Bis 7. August 2025 ist das Buch noch zum Subskriptionspreis 
in Höhe von 98 Euro erhältlich. Parallel zur deutschen ist auch eine englische Ausgabe erschienen.


Zum Thema:

Auch mit der Altstadterneuerung in Diktaturen haben sich Bodenschatz und Welch Guerra auseinandergesetzt. Der Band erschien 2021. Zur Rezension.


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