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07.02.2024

Buchtipp: The Icelandic Concrete Saga

Als der Beton auf die Insel kam


Jahrhundertelang war Torf das einzige verfügbare Baumaterial auf Island. Die Felsen der Insel waren für eine Bearbeitung zu hart, und Bauholz gab die spärliche Vegetation nicht her. Die inseltypische Bebauung endete nicht einmal als Ruine, weil die Torfhäuser mit ihren Grasdächern – wenn sie einmal nicht mehr gepflegt wurden – einfach wieder zu Humus wurden. Der britische Dichter Wystan Hugh Auden urteilte 1927 noch harsch: „Architektur gibt es hier nicht.“ Und das, obwohl damals längst auch mit Mauerwerk und importiertem Holz gebaut wurde.

Die italienische Architekturhistorikerin Sofia Nannini beschreibt im vorliegenden Buch The Icelandic Concrete Saga, wie der Beton nach Island kam, und wie dieser Baustoff die Insel veränderte. Ihre Erzählung liest sich eher als wirtschafts-, kultur- oder sozialgeschichtliche denn als kunsthistorische Betrachtung. Allerdings ist sie gespickt mit sehr genauen Beobachtungen der verwendeten Materialien und einer streckenweise minutiösen Auswertung von Parlamentsdebatten und Zeitungskommentaren über die Anwendung und Verbreitung von Beton.

Nannini fokussiert in drei Kapiteln eine Zeitspanne von gut 100 Jahren: von 1847, als Portlandzement vermutlich erstmalig Verwendung fand, bis 1958, als die erste und noch heute einzige Zementfabrik bei Reykjavik eröffnet wurde. Wie sehr der Beton auch eine Unabhängigkeitsgeschichte des kleinen Inselstaates schreibt, macht Nannini mit den Worten des damaligen Präsidenten Ásgeir Ásgeirsson deutlich. Der sagte zur Eröffnung jener Fabrik, dass die Geschichte der isländischen Architektur bis dahin weitgehend eine Tragödie gewesen sei, aus welcher nun der Beton einen Ausweg zeige: „Viele haben unser Land als unbewohnbar erklärt, weil es keine Baumaterialien gibt. Viele haben unserem Volk eine Kultur abgesprochen, weil es in Erde und Schotter lebt. Und viele haben gesagt, dass ein solches Volk niemals unabhängig sein kann.“ Stolz steht noch heute ein Sack Portlandzement „Made in Iceland“ in der Ausstellung des Nationalmuseums.

Das erste Kapitel handelt vom 19. Jahrhundert, von den ersten Versuchen mit Zement und Stein und davon, wie sich das Material und seine Anwendung zunehmend über die Insel ausbreiteten. So wurden bald auch Bauernhöfe, Scheunen oder Wassertanks aus Beton errichtet. Wunderbar ist auch nachzulesen, wie Nannini aus einer Vielzahl von Quellen den Bau des ersten isländischen Parlamentsgebäudes 1880 bis 1881 rekonstruiert. Architekt ist da noch der Däne Ferdinand Meldahl, der einen dänischen Klassizismus als repräsentative Staatsarchitektur nach Island bringt. Die Baustelle selbst wurde zur Ausbildungsstätte, in der isländische Arbeiter und Ingenieure den Umgang mit Zement und die richtigen Werkzeuge für die Steinbearbeitung kennenlernten. Sie konnten anschließend das Werkzeug auch gleich kaufen, sodass die Technik auf der Insel blieb.

Das zweite Kapitel betrachtet das frühe 20. Jahrhundert, als isländische Ingenieure und Architekten begannen, aus Zement und Beton einen „nationalen Stil“ zu formen für den jungen Staat, der 1918 seine Unabhängigkeit von Dänemark erlangte. Der Isländer Sigurdur Thoroddsen, der mit einem Stipendium nach Kopenhagen geschickt wurde, kehrte als erster einheimischer Ingenieur nach Island zurück. Dort plante er anschließend Brücken, Wasserkraftwerke und Straßen. Es sind solche Persönlichkeiten, mit denen Nannini die Geschichte des Betons in die jeweilige Zeit und Gesellschaft einbettet. Sie schaut genau hin und wertet vor allem originale Quellen aus, woraus sie uns so wunderbare Wörter mitbringt wie „steinsteypuöldin“, übersetzt „das Zeitalter des Zements“. Durch das Kopieren des europäischen Klassizismus entwickelte sich auch die „steinsteypuklassík“, also der frühe isländische „Zementklassizismus“.

Im dritten Kapitel, das die Jahre 1916-1950 abhandelt, sehen wir schließlich, wie unter Islands erstem Staatsarchitekten Gudjón Samúelsson die Suche nach einer eigenen Ästhetik und nationalen Ausdrucksweise beginnt. Hierfür untersucht Nannini seine bekanntesten Gebäude wie das Nationaltheater, das Nationalmuseum und das wohl bekannteste Bauwerk Islands, die Hallgrímskirkja in Reykjavik. Dabei betrachtet sie die Gebäude präzise, auch anhand ihrer teilweise experimentellen Konstruktionsweisen.

Nanninis Saga endet mit der beschriebenen Eröffnung des Zementwerks. Das ist fast ein wenig schade. Gerne hätte man der Autorin weiter zugehört, wie sich diese detaillierte, streckenweise minutiös recherchierte, mit wunderbaren isländischen Wörtern garnierte und dennoch flott geschriebene Betongeschichte nach 1958 bis heute weiterentwickelt. Oder wie sich daraus die zeitgenössische Architektur eines Studio Granda ableitet. Auch wäre es interessant zu eruieren, wie nach dieser langen Unabhängigkeitsgeschichte aktuell wieder die Staatsarchitektur von dänischen Büros entworfen wird. Dazu gehören etwa das Konzerthaus Harpa von Henning Larsen oder die Staatsbank von C.F. Møller, die jeweils in Zusammenarbeit mit kleinen isländischen Partnerbüros entstanden sind. Wie geht es also weiter mit der Beton-gestützten Unabhängigkeit Islands, wo es doch seit 1998 ein eigenes Architekturstudium an der Kunstakademie in Reykjavik gibt? Es nützt nichts: Nannini wird noch einmal zurückkehren müssen auf das schroffe Eiland im Nordatlantik, um den zweiten Teil ihrer Beton-Saga zu schreiben.

Text: Florian Heilmeyer


The Icelandic Concrete Saga
Sofia Nannini
Englisch

224 Seiten
Jovis Verlag, Berlin 2023
ISBN 978-3-98612-071-9
38 Euro


Zum Thema:

Mehr zum Bauen mit Beton gibt es auf Baunetz Wissen.


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