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https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen_Gerhard_Schroeder_eroeffnet_UIA-Weltkongress_in_Berlin_11661.html

23.07.2002

Kanzler-Rede

Gerhard Schröder eröffnet UIA-Weltkongress in Berlin


Bundeskanzler Gerhard Schröder eröffnete am 23. Juli 2002 die Plenarrunde des Architektur-Weltkongresses in Berlin mit einer Rede zu Architektur und Politik.

Nachfolgend finden Sie den Wortlaut dieser Rede.




Pressemitteilung Nummer 404/202, 23. Juli 2002
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung


Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich des XXI. Architektur-Weltkongresses in Berlin 2002





Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrter Herr Strieder,
sehr geehrter Herr Hempel,
Herr Conradi, Herr Ganser,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich freue mich, dass die Internationale Architekten Union zu ihrem Kongress 2002 nach Deutschland gekommen ist und begrüße insbesondere die ausländischen Gäste sehr herzlich in unserer Hauptstadt.

Das Motto Ihres Kongresses - Ressource Architektur - passt hervorragend zu Berlin:
Sie können hier sehen, welche wichtige Rolle die Architektur beim Zusammenwachsen der beiden über 40 Jahre lang getrennten Landesteile und des jahrzehntelang geteilten Berlins spielt.
Architektur und Politik sind einander nah - nicht nur hier in Berlin. Beides hat mit der Gestaltung von Leben und Lebensräumen zu tun. Architektur ist Ausdruck und Gegenstand von Politik.

Gelegentlich, das konnte man im Vorfeld dieses Kongresses und der Ausstellung feststellen, geraten Architektur und Architekten auch ins Zentrum der politischen Kontroverse. Versuche, Architektur für politische Ziele zu vereinnahmen, sind in der Geschichte nichts Neues. Es wäre sicher vermessen zu glauben, dass Architektur komplexe Probleme wie den Nahostkonflikt lösen könnte.

Aber aus den gesellschaftlichen und politischen Konflikten heraushalten können sich Architektur und Architekten eben auch nicht. Denn genau genommen, geht es bei Architektur und Politik um dieselbe Aufgabe: Nämlich das Leben der Menschen nicht zu verplanen, sondern ihnen die Bedingungen zu verschaffen, damit sie ihre Lebensentwürfe, ihre Pläne und Hoffnungen selbstbestimmt verwirklichen können.

Natürlich ist es so, dass sich im historischen Bewusstsein Architektur vornehmlich durch Herrschaftsbauten erhalten hat. Vieles von dem, was Architektur jenseits der Machtzentren bewirkt hat - im Guten wie im Schlechten -, ist lange Zeit nur von Fachkreisen und Eliten wahrgenommen worden. Ganz im Sinne des Satzes: "Cézanne malte die Häuser der Armen. Aber seine Bilder landeten nur in den Häu-sern der Reichen."
Das hat sich in der Demokratie geändert. In welchen Häusern, Städten und Siedlungen die Menschen leben, ist heute selbstverständlich Gegenstand demokratischer Diskussion und demokratischer Entscheidung.

Die Architekten haben diese Herausforderung gern und gut angenommen - auch wenn es sicher manchmal umständlicher ist, das souveräne Volk zum Bauherrn im öffentlichen Raum zu haben als einen Monarchen oder Feudalherrn.
Denn auch der demokratische Staat braucht Bauten, mit denen die Bürger sich und ihr Gemeinwesen identifizieren können.

Die Neubauten des Bundes in Berlin wollen moderne Ästhetik mit traditionellen Stadtstrukturen verbinden. Ob und wie gut dies gelungen ist, werden Sie bei Ihrem Aufenthalt in der Stadt selbst am besten beurteilen können.
Wir sind den Weg gegangen, internationale Wettbewerbe auszuschreiben und Architektur-Experten und Politiker in kundigen Jurys entscheiden zu lassen. Architekten aus aller Welt haben die Chance genutzt, an diesen Wettbewerben teilzunehmen und hier in Berlin zu bauen.
Dabei hat sich herausgestellt, dass längst nicht mehr ein einziger moderner Stil den Maßstab für gelungene Architektur abgibt.
Das ist übrigens auch der tröstliche Beweis dafür, dass Globalisierung keineswegs kulturelle Uniformität bedeuten muss.

Meine Damen und Herren,

in den öffentlichen Bauten soll sich die Baukultur einer Region, eines Landes ausdrücken. Dies gilt hier in Berlin für die Botschaftsgebäude, die in den letzten Jahren in dieser Stadt neu errichtet oder ausgebaut worden sind. Sie werden hier viele eigenwillige und prägnante Architekturen finden, in denen sich die kulturelle Vielfalt der hier repräsentierten Nationen widerspiegelt.

Zum Bild Berlins gehören in besonderer Weise die neuen Bauten für Parlament und Regierung im Spreebogen und der neue Potsdamer Platz. Sie zeugen von politischer und wirtschaftlicher Kraft, aber vor allem vom Können und von der Phantasie vieler international bekannter Architekten.
Und noch etwas: Sie sollen die Identität stärken, das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserem Land entwickeln.

Meine Damen und Herren,

Architektur bestimmt das Leben der Menschen mindestens so sehr wie die Politik.
Deshalb wollen wir das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bedeutung der gebauten Umwelt, für Architektur stärken.

Wir wollen alle Bauherren, die öffentlichen und die privaten, dafür gewinnen, mit ihren Architekten Gebäude zu bauen, die den Menschen dienen und ihr Leben besser machen. Denn mehr Baukultur heißt auch mehr Lebensqualität.

Meine Damen und Herren,

Architektur entstand mit der Entwicklung der Städte. Im Dialog der Zivilisationen spielt die Stadt eine entscheidende Rolle.
In den Städten entscheidet sich, wie wir miteinander leben werden, ob uns ein friedliches, demokratisches Miteinander der Menschen in Freiheit, Gleichheit und Solidarität gelingt.
In den Städten entscheidet sich mehr als anderswo, wie wir mit Menschen anderer Hautfarbe, anderer Herkunft, anderer Religion umgehen - ob wir Minderheiten benachteiligen oder die Vielfalt als Reichtum empfinden.

Meine Damen und Herren,

viele von Ihnen waren vor zwei Jahren dabei, als hier an dieser Stelle im ICC in Berlin unter Teilnahme von Kofi Annan die Weltkonferenz URBAN 21 stattfand.
Sie hat deutlich gemacht, dass es keine Patentlösungen gibt für die Bewältigung der Probleme ungeplant explodierender Städte in Asien, Südamerika und Afrika; für die dynamischen Wachstumsstädte in Südostasien oder China und nicht zuletzt für die alten Städte Europas mit abnehmender und alternder Bevölkerung.

Bald lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung in Städten. Wir werden es erleben, dass sich immer mehr Mega-Cities bilden, und zwar in Ländern mit geringer Wirtschaftskraft. Von der Entwicklung dieser Städte wird viel für die Zukunft der Menschheit abhängen.

Das "Jahrtausend der Städte" - wie Kofi Annan es nannte - wird viele unterschiedli-che Städte hervorbringen. Aufgabe der Politik auf globaler und lokaler Ebene wird es sein, die Voraus-setzungen für eine soziale Integration zu schaffen, ohne die keine Stadt auf der Welt eine lebenswerte Umwelt bieten kann.

Ein Problem haben alle Städte gemeinsam: die Bedrohung der Umwelt durch Raubbau an den Ressourcen, vor allem der fossilen Energie und des Wassers, sowie die erkennbare Gefährdung der Welt durch Klimawechsel und globale Erwärmung.

Wir haben in Deutschland konkrete Maßnahmen zur Reduzierung des Verbrauchs von fossilen Energien ergriffen.
Wir fördern die solare Energie und die Windenergie. Unsere ökologische Steuerreform gibt Anreize zum Energiesparen.
Wir haben Anstrengungen unternommen, damit auch der Energie-verbrauch von Gebäuden drastisch reduziert wird.

Landschafts- und Städteplaner sowie Architekten können wichtige Beiträge zur Schonung der Ressourcen und zur nachhaltigen Entwicklung leisten.
Ein neues Thema, das in diesem Zusammenhang leidenschaftlich und kontrovers diskutiert wird, ist der Flächenverbrauch. Unstreitig ist, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass Landschaft freigehalten und umweltsparende Bauplanung überall selbstverständlich wird.

Wichtig ist mir, dass eine nachhaltige Entwicklung unserer Städte nicht nur eine Sache von Politikern und Experten ist.

Aktiver Motor eines umfassenden öffentlichen Diskussionsprozesses ist bei uns seit geraumer Zeit die Lokale Agenda 21. In mehr als 2300 Städten, Kreisen und Gemeinden entwickeln Bürgerinnen und Bürger Ideen für eine lebenswerte Stadt. Die umweltverträgliche Lösung von Verkehrsproblemen, aber auch die Einbeziehung von Obdachlosen in eine soziale Stadt sind dort wichtige Themen.
Das hier von den Bürgerinnen und Bürgern gezeigte enorme Engagement ist für mich ein hoffnungsvolles Zeichen.

Von der Lokalen Agenda spannt sich der Bogen zum Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung, der Ende August in Johannesburg stattfindet. Dort wird nach Wegen gesucht werden, weltweit die Menschen in den großen Städten mit sauberem Trink-wasser zu versorgen. Für den Zugang zur Abwasser-entsorgung soll ein festes Ziel und ein Maßnahmeprogramm beschlossen werden.
Es geht dabei um nicht weniger als um die Grundbedürfnisse der Menschen im 21. Jahrhundert.

Meine Damen und Herren,

während in Europa und Nordamerika die Bevölkerungszahlen in den meisten Städten stagnieren, wird für die Städte in Asien und Afrika ein besonders dynamisches Wachstum vorhergesagt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden im Jahre 2050 zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben.

Noch können wir uns nicht genau vorstellen, zu welchen Siedlungs-strukturen und Lebensformen dies führen wird - dieser Prozess ist ohne historisches Vorbild. Überwiegend sind es die Armen, die in die Städte strömen, weil sie auf dem Lande keine Überlebensmöglichkeiten mehr sehen. Das traditionelle Gleichgewicht von Stadt, Landschaft und Natur existiert nicht mehr.

Die städtischen Ökonomien bieten aber nur für einen Bruchteil der Zuwanderer hinreichende Verdienstmöglichkeiten. Die städtischen Infrastrukturen sind überlastet. Wir können auch nicht die bekannten Organisationsmodelle und Stadttechniken einfach auf die neue Situation übertragen.

Dafür sind weder die kulturellen Voraussetzungen noch die finanziellen Mittel oder die Wasser- und Rohstoff-ressourcen vorhanden.

Meine Damen und Herren,

wir alle wissen, dass die Unterwerfung der Stadtentwicklung und -planung unter das Diktat der Ökonomie nicht zwangsläufig zu menschen- und umweltfreundlichen Städten führt. Markt und Wettbewerb sind ökonomisch unverzichtbar, aber die Ergebnisse tragen den Bedürfnissen aller Bevölkerungsteile nicht hinreichend Rechnung. Deshalb muss die Politik Grenzen setzen und Vorgaben machen, damit die Stadt und ihre Bauten für alle Menschen lebenswert sind und allen Menschen Sicherheit und Wohlstand ermöglichen.

Meine Damen und Herren,

wir sind, nicht nur bei der Bewältigung der Stadt- und Umweltprobleme, zur globalen Kooperation geradezu gezwungen. Diese Kooperation muss aber von wechselseitigem Lernen geprägt sein. Darüber, wie man mit geringerem Energie- und Ressourcenverbrauch auch in großen Städten leben kann, können wir beispielsweise von den Entwicklungsländern viel lernen.
Andererseits können die Erfahrungen, die wir mit Stadttechnik und Städtebau gemacht haben, dabei helfen, Probleme der neuen Mega-Cities effizient zu lösen.

Von ganz besonderer Bedeutung ist jedoch das Bildungswesen. Wissen ist die wichtigste Voraussetzung für die humane Organisation der weltweiten Verstädterung. Nur Wissen befähigt auch zur Selbstorganisation und dazu, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Eine politische Gestaltung der Globalisierung muss deshalb für eine Verstetigung von Bildungs- und Entwicklungschancen sorgen und ein ordentliches Niveau der Arbeitsbedingungen der Menschen sichern.

Meine Damen und Herren,

in den Frühphasen der Industrialisierung wurde Stadtentwicklung vor allem als technische Aufgabe begriffen.

Die ersten Stadtplaner waren in der Regel Bauingenieure. Dabei sind großartige Leistungen vollbracht worden. Heute aber sind die Aufgaben komplexer geworden.

In den Industriestädten muss ein ökonomischer Wandel bewältigt werden. Dabei reicht es nicht mehr aus, die Infrastruktur auszubauen und das Wohnungsangebot zu verbessern. Es geht auch darum, den Wandel zur Dienstleistungsökonomie angemessen zu reflektieren.

Die Lebensqualität der Städte, ihre Attraktivität insgesamt, wird ein immer wichtigerer Faktor für ihre Entwicklung. Und dazu gehört natürlich auch das Stadtbild, für das Sie als Architekten und Stadtplaner auch Verantwortung tragen. Langfristig dürften diejenigen Städte die besseren Entwicklungschancen haben, die ein eigenes Profil, eine eigene Baukultur entwickeln – mit Respekt vor regionalen und lokalen Traditionen.
In Deutschland gibt es einige gute Beispiele für eine gelungene Verbindung von Globalität und Lokalität, von Moderne und Tradition.

Meine Damen und Herren,

ich bin sicher, dass von diesem 21. Weltkongress der Architekten in Berlin Signale für eine menschen- und umweltfreundliche Architektur ausgehen werden.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, wünsche Ihrem Kongress viel Erfolg und uns allen wichtige Impulse für die Entwicklung unserer gebauten Umwelt.

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung


Zum Thema:

www.uia-berlin2002.de
BauNetz-Meldungen zum UIA-Kongress
BauNetz-Kalender zum UIA-Kongress


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