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26.08.2025
Der Unabhängige
Zum Tod von Nikolaus Kuhnert
Von Stephan Becker und Gregor Harbusch
Auf eine Zigarette mit Nikolaus raus in den Garten. Das war für uns und für viele andere, die als Student*innen in den Redaktionsräumen der ARCH+ in Berlin-Zehlendorf arbeiteten, nicht nur ein kleines Ritual. Es war oft der Auftakt für Gespräche, die sehr viel mehr wert waren als jedes Uniseminar. Und Nikolaus rauchte viel, dazu immer einen lauwarmen Cappuccino in der Hand. Was sich in diesen Gesprächen – häufig waren es tendenziell freundlich zugewandte Monologe – immer wieder im Kleinen und Großen entspannte, war eine ganz eigene, unglaublich informierte Gedankenwelt, in der Nikolaus Architekturen und Theorien unterschiedlichster Ebenen und quer durch das 20. Jahrhundert pointiert zusammenbrachte. Das Ganze mit beeindruckender Souveränität, aber immer auch mit dem notwendigen Zweifel, um das Nachdenken nicht erstarren zu lassen.
Am vergangenen Mittwoch ist Nikolaus Kuhnert – langjähriger und prägender Mitherausgeber der ARCH+, der wichtigsten Zeitschrift für Architekturtheorie in deutscher Sprache – im Alter von 86 Jahren in Berlin gestorben. Wie nicht wenige Architekturtheoretiker begann er seine Karriere als Praktiker. Nach dem Studium in der Nachkriegszeit – Architektur an der TU Berlin und zeitweilig auch Malerei an der heutigen UdK – arbeitete er zunächst noch ohne Abschluss im Büro seines Vaters, der ebenfalls Architekt war. In den 1960er Jahren entstanden Entwürfe und einzelne, kleine Bauten, orientiert am Expressionismus und an Hans Scharoun.
Schon bald stellten sich mit der beginnenden Politisierung der 1968er Zeit aber Fragen, die Kuhnert in Form von selbstorganisierten Seminaren im Rahmen der Kritischen Universität oder der Aktion 507 zurück an die Universität brachten. An den entscheidenden Ereignissen jener Jahre partizipierte er, hielt zugleich aber auch eine gesunde Distanz zu radikalen Ideologien. Zurück zur Praxis fand er in den kommenden Jahrzehnten nicht mehr, wohl aber zurück zur Architektur. In Aachen war er Mitglied des sogenannten Assistentenpools und beschäftigte sich mit politischen Gestaltungsansätzen und Planungstheorie. Doch bald folgten theoretische Konzepte jenseits der heroischen Moderne, wie sie Aldo Rossi oder Manfredo Tafuri in jenen Jahren zu entwickeln begannen, die Form und Geschichte in ihren politischen Dimensionen wieder in den Diskurs brachten. Das Forum für solche – im Stil der Zeit oft mit harten Bandagen geführten – Auseinandersetzungen wurde die Zeitschrift ARCH+. Ab 1972 war er Mitglied der Redaktion.
Damit begann für Kuhnert eine Art professioneller Selbstfindungsprozess jenseits der Institutionen, der insbesondere durch seine charakteristische und konsequente, geistige Unabhängigkeit geprägt war. Dass hierbei – wie schon zuvor bei seiner zurückhaltenden Rolle in der 1968er-Bewegung – auch biografische Aspekte eine Rolle spielten, hat er immer wieder anklingen lassen. Geboren 1939 in Potsdam als Sohn einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters, erlebte er die ersten Jahre seines Lebens als andauernde existenzielle Bedrohung. Das mag ihn später immer wieder davor bewahrt haben, irgendwelchen politischen oder auch architektonischen Heilsversprechen zu folgen.
Jedenfalls zeichnete ihn ein intuitives Misstrauen gegenüber jeglichen Autoritäten aus, was auch die repräsentativen Zwänge üblicher Karrierewege betraf. Er promoviert zwar („Soziale Elemente der Architektur: Typus und Typusbegriffe im Kontext der Rationalen Architektur“, RWTH Aachen 1978), zog jedoch die bereits eingereichte Habilitation nach hochschulinternen Verwerfungen zurück. Anstelle eines akademischen Weges trat – meist im Rhythmus der Heftpublikationen – ein umfassendes und lebenslanges Selbststudium zu den Themen der Zeit und des Architekturdiskurses. Nicht selten übernahm er mit ARCH+ entscheidende Übersetzungsleistungen, indem die Ausgaben internationale Debatten in den deutschsprachigen Raum vermittelten.
Seine beeindruckende Lebensleistung besteht jedoch nicht nur darin, über Jahrzehnte hinweg unter oft schwierigen ökonomischen Bedingungen eine theorieorientierte Zeitschrift publiziert zu haben. Sondern auch, immer neuen Generationen von Student*innen immer wieder neue Räume für ein kritisches Denken über Architektur und Stadt eröffnet zu haben. Kritik war für ihn kein Buzzword, Theorie kein selbstverliebtes Nachdenken im Elfenbeinturm, was ihn antrieb, war ein echtes Interesse an den Dingen.
Von Nikolaus konnte man nicht nur lernen, Theorien in ihren Zusammenhängen zu ordnen und zu verstehen oder manch arg verkopften Text wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, sondern auch, dass Theorie in ihren gesellschaftlichen und politischen Dimensionen echte Relevanz haben kann. Für diesen oder jenen Zweck „brauchbar“ sei ein Text, hieß es dann. Selten ohne Verweis darauf, wo eben die Grenzen oder Probleme eben jener Position lägen, wer dann aus welcher Situation heraus darauf reagiert habe, was dann dort aber wieder schwierig sei und so weiter und so fort – das Ganze um die ein oder andere schräge Anekdote ergänzt. Diskurse zu ordnen und zugleich die Menschen hinter den Theorien wie in einem Schelmenroman zu skizzieren, ergänzten sich dabei auf verblüffende und unterhaltsamste Weise.
Dieses Ordnen von intellektuellen Zusammenhängen durch die gesamte Moderne im weitesten Sinne, gepaart mit einer unangepassten Unabhängigkeit im Denken und Tun, hat viele geprägt, die mit ihm an der ARCH+ arbeiteten. Nikolaus hatte einen eigenen Kompass, seine Autorität speiste sich allein aus seinem Wissen, jegliche Repräsentation war ihm fremd. Passend dazu lagen die Berliner Redaktionsräume lange Zeit weit abseits des Großstadttrubels, im dunklen Souterrain seines kleinen Einfamilienhauses im idyllischen Zehlendorf, das selbstverständlich voller Bücher war und wohin sich die Putzfrau eher selten verirrte.
Wie es sich für einen Alt-68er gehörte, war Nikolaus zuweilen erfrischend nonkonformistisch. Etwa als wir den Rohbau des Palasts der Republik an einem brüllend heißen Sommertag besuchten und er einfach sein Hemd auszog, um oben ohne mit uns durch das politisch heftigst umkämpfte Haus zu laufen. Ein andermal stiegen wir zusammen in eine leerstehende Villa ein, um bestimmen zu können, wer sie entworfen hat. Überraschend behende schwang er sich damals über den Zaun. Immerhin war er bereits Mitte 60, betrieb – selbstverständlich für einen Intellektuellen seiner Generation – keinen Sport und bewegte sich am liebsten im Kleinwagen durch die Stadt. Momente wie diese bleiben als Anekdoten in lebhafter Erinnerung. Alles Fachliche hat sich tief eingegraben in das eigene Denken und die eigene Haltung.
Nikolaus Kuhnert hinterlässt eine Frau und drei Kinder. Sein Lebenswerk, die ARCH+ hat er bereits vor einigen Jahren in die Hände seines langjährigen Mitarbeiters Anh-Linh Ngo gelegt.
Zum Thema:
Die ARCH+ hat eine Webseite mit Erinnerungen von Weggefährt*innen Kuhnerts eingerichtet.
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