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01.03.2023

Russlands Neokolonialismus

Zu den Zerstörungen kulturellen Erbes im Russisch-ukrainischen Krieg


Fast zehn Prozent des kulturellen Erbes der Ukraine könnten bereits zerstört sein, berichten amerikanische Forscher*innen. Die Zahlen in den veröffentlichten Listen unterscheiden sich momentan noch erheblich. Doch nicht nur das Ausmaß der Zerstörungen wird mehr und mehr greifbar, sondern auch die Systematik, mit der Russland die Geschichte der Ukraine geradezu auszuradieren versucht.
 
Von Nikolaus Bernau

Die Folgen des seit neun Jahren wütenden Kriegs, den Russland gegen die Ukraine führt, sind auch für die kulturelle Überlieferung des Landes katastrophal. Das zeigte sich bereits 2014, als die Krim und Teile des Donbass besetzt, Kirchen an die moskauhörige Orthodoxie übergeben, Moscheen und Tempel geschlossen, die Ausstellungen in den Regionalmuseen systematisch überarbeitet wurden. Nach Angaben von Reisenden findet sich in den Ausstellungen nichts mehr vom heftigen Widerstand der Kosaken, Ukrainer oder Tataren gegen ihre Russifizierung oder von der Deportation der Krim-Tataren 1944 nach Mittelasien und ihrer jahrzehntelange Diskriminierung.

Ähnliche Ziele verfolgt Russland offenbar auch jetzt. Gleich in den ersten Tagen des aktuellen Angriffs wurden nicht nur Wohnviertel und Industrieanlagen in der Ukraine, sondern auch die Universitäten in Charkiv und Kiew mit Raketen beschossen. Dadurch gerieten die Nationalbibliothek und das Nationalarchiv in Gefahr. Sogar die Kathedralen von Tschernihiv wurden zum Kampfgebiet. Sie zählen zu den bedeutendsten des osteuropäischen Mittelalters, doch ihre seit 1989 von der Ukraine vorbereitete Eintragung als Welterbe hat Russland bisher verhindert. So wie das Land insgesamt seit 2014 systematisch alle Eintragungen ukrainischer Welterbestätten blockiert. Erst nachdem im November der russische Botschafter als Vorsitzender der Welterbekommission ausschied (die Verbündeten der Ukraine hatten sich seit dem Frühjahr geweigert, mit ihm zusammenzuarbeiten) konnte wenigstens Odessa in die Welterbeliste aufgenommen werden – um gleich am nächsten Tag auf der Roten Liste des höchst bedrohten Welterbes zu landen. Immerhin, denn so zeigte die traditionell eher russlandfreundliche Unesco, dass sie dem kolonialistischen Anspruch Putins auf die Ukraine nun entgegentritt.

Beschossen wurden die Altstadt von Lviv, dauernd unter Beschuss liegt Cherson. Im Frühjahr 2022 fürchteten die Führer aller Religionen, dass sogar das ehrwürdige Höhlenkloster und die Kathedralen in Kiew ein Ziel Russlands werden könnten, weil sie sich darin demonstrativ zur Unabhängigkeit der Ukraine bekannt hatten. Aus dem Museum in Melitopol verschwanden die berühmten Skythen-Sammlungen, aus dem Kunstmuseum in Cherson wurden im Herbst 2022 von russischen Fachleuten zehntausende Gemälde, Skulpturen, Möbel, Bücher und Archivalien auf die Krim geschafft – angeblich, um sie vor Kriegsschäden zu schützen. Die Geschichte der Nicht-Rückgabe von 1945 durch die Rote Armee in Deutschland erbeuteten Kulturgütern seit 1990 lässt da wenig Hoffnung.

Die Gedenkstätte des Mennonitenpredigers Hermann Janzen im Donbass ist schwer beschädigt worden, ebenso das Museum von Ivankiv. Bibliotheken und Museen in Charkiv, Kiew oder Odessa, auch das bedeutende Marinemuseum in Mykolajiv sind zumindest beschädigt, viele kleinere Institutionen ganz zerstört. Dass Bücher und Akten in den Regen geworfen, Fenster und Dächer eingeschlagen, Strom- und Wasserleitungen demontiert wurden, zeigt, dass die bis hin zur Verkotung gehende Vandalisierung von Kulturstätten Teil einer neokolonialen Stretagie ist, die die Geschichte geradezu ausradieren will. Vergleichbares ist auch aus früheren Kriegen Russlands etwa in Tschetschenien, Syrien oder Georgien bekannt.

Und doch, so fürchterlich es klingt: Solche Zerstörungen und Raubtaten könnten im Rückblick die kleineren kulturellen Schäden sein, die der Krieg Russlands gegen die Ukraine zur Folge hat. Die Zahlen in den veröffentlichten Listen unterscheiden sich momentan noch erheblich, aber das Ausmaß der Zerstörungen wird mehr und mehr greifbar. Das ukrainische Kulturministerium meldet etwa 1.200 beschädigte, geplünderte oder zerstörte Stätten, die Unesco höchst skrupulös etwa 240 absolut gesicherte Verluste. Amerikanische Forscher*innen der Gruppe Conflict Observatory um die University of Maryland haben dagegen schon etwa 1.500 mindestens beschädigte Kulturinstitutionen und ihre Häuser erfasst, indem sie Luftbilder auswerteten, auf denen 16.000 Kulturstätten markiert wurden. Beim genaueren Blick zeigt sich, dass die unterschiedlichen Zahlen methodisch bedingt sind, vor allem aber, dass sie fast identische Relationen spiegeln. Offenbar betreffen etwa 30 Prozent der Schäden Denkmale, historische Bauten und Gedenkstätten, etwa 40 Prozent Kirchen und Klöster sowie 25 Prozent Museen, Bibliotheken und Archive.

Getroffen wurden weit überproportional Kulturstätten wie das konstruktivistische Stadtzentrum von Charkiv oder das ruchlos – trotz der Beschriftung mit „Kinder“ – vollkommen zerstörte Theater in Mariupol, die für das 19. und 20. Jahrhundert stehen, also die Zeit der ukrainischen Nationalbewegung. Auffällig viele Kulturhäuser sind zerstört, die seit sowjetischer Zeit Anker des nationalen Selbstbewusstseins wurden. Sie stehen meistens auf großen, weiten Plätzen. Und genau wie Kirchen und Klöster oder Gedenkstätten in Dörfern muss man solche Bauten mit Raketen und Beschuss treffen wollen, um sie zu treffen.


Zum Thema:

Noch bis Mittwoch, 31. Mai 2023 ist im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek (Deutscher Platz 1, 04103 Leipzig) die Ausstellung „before/after. Zerstörte Kulturstätten in der Ukraine“ zu sehen. Die Ausstellung wurde auf Initiative des Kulturamtes der Stadt Mariupol konzipiert und zeigt die weitreichende Zerstörung ukrainischer Kulturorte.


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