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16.09.2022

Stoffwechsel des Bauens

Zu Besuch auf der Architekturbiennale Tallinn


Die Tallinn Architecture Biennale gehört zu den jüngeren Veranstaltungen dieser Art. Doch nach sechs Ausgaben hat sie bereits ihre eigene Tradition entwickelt. Die Themen sind präzise gesetzt, die Teilnehmer*innen meist jünger, ihre Beiträge oft experimentell. In diesem Jahr geht es um das Verhältnis von Nahrungsmittel- und Raumproduktion.

Von Evelyn Steiner

Die Baubranche und die Nahrungsmittelproduktion sind zusammen für rund zwei Drittel der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Um nachhaltiger zu bauen und Lebensmittel zu produzieren, ist es höchste Zeit, die zahlreichen Zusammenhänge zwischen den beiden Sektoren zu thematisieren. Genau das tun Lydia Kallipoliti und Areti Markopoulou, die beiden Kuratorinnen der diesjährigen Architekturbiennale in Tallinn (TAB). Unter dem Titel „Edible; Or, The Architecture of Metabolism“ fächern sie die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Nahrung, Geopolitik, Ökonomie, Ökologie und der gebauten Umwelt auf.

Indem sie Themen wie die Bestandteile und Prozesse der Natur – beispielsweise Stoffwechsel, Wachstum, Verfall, Verdauung und Nährstoffabgabe – auf Städte und Häuser übertragen, eröffnen sie eine Vielzahl von Fragestellungen: Wie könnten Gebäude selbst Nahrung und Ressourcen produzieren? Wie sieht eine Architektur aus, die ganz aus biologisch abbaubaren Materialien besteht? Wie kann die gebaute Umwelt besser mit der Natur interagieren? Und welche Rolle haben Design und Architektur im Kampf gegen den Klimawandel?

Leib- und Magenarchitektur

Wie Kreislaufwirtschaft und lokale Ressourcenproduktion neu gedacht und in Design, Architektur und Urbanismus einfließen könnten, verhandeln die Kuratorinnen in verschiedenen Formaten. Im Zentrum steht die Hauptausstellung der Biennale im estnischen Architekturmuseum. Diese demonstriert in fünf Kapiteln, wie mittels Allianzen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen sowie neuester Technologien eine CO2-neutrale Architektur erreicht werden kann. Wichtigstes Element der Schau ist das „Metabolic Home“. Insgesamt sieben Installationen verbinden hier die menschlichen Stoffwechselprozesse und die Herstellung von Nahrung mit dem eigenen Zuhause.

Darunter ist etwa die Installation „Robotic Urban Farms“ des Institute for Advanced Architecture of Catalonia (IAAC & MRAC), die die Transformation von Gebäudehüllen in vertikale städtische Obstgärten und die Symbiose zwischen lebenden Systemen, Menschen und Robotern untersucht. Daneben lädt eine Lounge aus Puffreis (!) zum Verweilen ein. Mitchell Joachim und Vivian Kuan von Terreform ONE (New York) stellen hieraus Bauelemente her, die als Notvorrat dienen und gleichzeitig die Artenvielfalt erhöhen, indem sie Insekten, Vögeln und kleinen Säugetieren Nahrung bieten.

Im Kapitel „From Brick to Soil“ hinterfragen die Kuratorinnen den Lebenszyklus unserer heutigen Baumaterialien und zeigen Prototype essbarer, wiederverwertbarer und kompostierbarer Baukomponenten. Interessant ist hier etwa das Projekt „Yfaloid“ von Topotheque (Los Angeles/Ioannina, Griechenland). Hier geht es um 3-D-gedruckte, künstliche Riffe, die die biologische Vielfalt der Meeresbewohner erhöhen und den illegalen Fischfang verhindern sollen. Darüber hinaus dienen sie als Substrate, sind also Futter für Fische und Algen, die dann wiederum zu Nahrung für Menschen werden.

Über den Tellerrand hinaus


Der Bereich „Food and Geopolitics“ blickt auf die großen Zusammenhänge. Hier werden etwa Massenmigration und Nahrungsmittelbeschaffung in Konfliktgebieten thematisiert. Daran schließt der „Future Food Deal“ mit einer Bibliothek an, in der Hand- und Kochbücher sowie visionäre Zeichnungen und Manifeste ausgestellt sind. Diese zeigen, wie Architektur auf das Problem der Entfremdung zwischen dem Menschen und seinen Nahrungsquellen in einer Zeit zunehmender Urbanisierung reagieren kann.

Sehr sehenswert ist das letzte Kapitel „The Archaeology of Architecture and Food Systems“. Das Archiv umfasst eine Reihe radikaler und spekulativer Projekte aus dem 20. Jahrhundert, die die Themen Nahrung und Architektur kombinieren. Darunter ist etwa „Wheatfield – A Confrontation“ der amerikanischen Konzeptkünstlerin Agnes Denes. Sie pflanzte 1982 in einem Akt des Protests gegen den Klimawandel und die wirtschaftliche Ungleichheit ein riesiges Weizenfeld in der Innenstadt von Manhattan. Die geernteten Körner wurden in der Ausstellung „The International Art Show for the End of World Hunger“ (1987–90) gezeigt und konnten von den Besucher*innen mitgenommen werden, um diese wieder auszusäen.

Zwischen Handwerkskunst und NFTs


Ergänzend zur Hauptausstellung fand in der Eröffnungswoche ein zweitägiges Symposium statt, in dessen Rahmen unter anderem Beatriz Colomina, Claudia Pasquero vom Londoner ecoLogicStudio oder Philippe Rahm ihre Sicht auf die metabolistische Qualität von Architektur darlegten. Weitere Bestandteile der TAB sind ein Ideenwettbewerb für die Revitalisierung des Tallinner Stadtteils Lasnamäe, der Blockchain-finanzierte Pavillon „Fungible Non-Fungible“ sowie die Schau „Handful“, in der sich Architekturstudierende mit Handwerk und Materialien auseinandersetzen.

Die TAB vereint auf erfrischende Weise eine Vielzahl junger, internationaler Akteur*innen, die die Praktiken der Lebensmittelproduktion und der Bauwirtschaft kritisch hinterfragen. Die vielen Prototypen und spekulativen Projekte gilt es erstmal zu verdauen und aus dem akademischen Kontext herauszulösen. Denn der proklamierte Wandel findet erst statt, wenn sich auch ein breites Publikum mit neuen Zuchtformen, der Weiterverarbeitung von Abfällen oder synthetischem Wachstum befasst.


Zum Thema:

Die Tallinn Architecture Biennale läuft noch bis 20. November 2022. Detaillierte Informationen zu Ausstellungen und Programm findet man unter www.2022.tab.ee.


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