Im Jovis Verlag ist ein Band mit Wohntheorien des 20. Jahrhunderts erschienen. Herausgeberin Kirsten Wagner hat darin „Schlüsseltexte zum Wohnen“ zusammengestellt und kommentiert. Entstanden ist eine äußerst lesenswerte Sammlung von Beiträgen aus Philosophie und Soziologie zu einem Kernthema der Architektur.
In Ton und Stil sind die zehn Quellentexte des Bandes weit gefächert. Manche sind leicht zugänglich, andere komplex, verschachtelt, abstrakt. Gleiches gilt für ihre Rezeption. Es gibt viel zitierte Texte und solche, die weniger bekannt sind. Wagner beginnt mit Ernst Bloch und Martin Heidegger, dann folgen beispielsweise Arbeiten von Gaston Bachelard, Pierre Bourdieu, Amos Rapoport (einziger Beitrag aus der Architektur), Michel de Certeau und Luce Giard. Jeder der Texte wird ergänzt durch Abbildungen und Fotos, bibliografische Angaben, eine Auswahl an Sekundärliteratur sowie einen Kommentar zu den städtebaulichen und architekturgeschichtlichen Kontexten.
Dank der fundierten Erläuterungen der Herausgeberin entsteht ein spannendes Gesamtbild und Wechselspiel der Texte. Wagner gibt einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze, Wohnen als anthropologische Tatsache, soziale Praxis oder kulturelle Form zu verstehen. So spricht Bloch etwa vom Wohnen als einer Utopie; Paul-Henry Chombart de Lauwe von einer Befreiung materieller und sozialer Beschränkungen; Hermann Schmitz vom Wohnen als Schutz und Henri Lefebvre vom Wohnen als Poiesis, also einem zielgerichtetem, schöpferischen Handeln.
Wagners Textauswahl zeigt, dass sich der Wohndiskurs des 20. Jahrhunderts grundsätzlich als Fortsetzung der vorangegangenen Auseinandersetzung mit dem Wohnen verstehen lässt. Der Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Wohnformen, der im 19. Jahrhundert formuliert wurde, blieb im 20. Jahrhundert aktuell – allerdings unter verändertem Blickwinkel. Kollektives Wohnen war nun verstärkt mit der Frage nach Quantität verbunden. Diskutiert wurde die Unterbringung einer steigenden Zahl von Einzelhaushalten in den neuen Großsiedlungen, die in den Wohndebatten das Kleinhaus mit Garten als Ideal ablösten.
Ihre über 600 Seiten umfassende Publikation könne, so Wagner, nicht nur linear gelesen werden, sondern gern auch quer und punktuell. Obgleich das funktioniert, ist eine chronologische Lektüre empfehlenswert. Denn Wagner, die am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld Kultur- und Kommunikationswissenschaft lehrt, zeigt viele interessante Bezüge zwischen den Beiträgen auf, verweist auf wichtige Parallelen und Gegenthesen. Diese lassen sich besser nachvollziehen, wenn man von vorne nach hinten liest.
Vieles an der Anthologie ist bemerkenswert. Die kluge Auswahl der Texte, die ausführlichen Kommentare, die gut nutzbaren Literaturverweise. Und nicht zuletzt die großartige Gestaltung von Sarah Fyrguth und Alessandro Sommer. Die Unterteilung der Kapitel, Quellentexte und Kommentare sind in Senfgelb und Schwarz voneinander ausgeführt. Als Fußsteg durchlaufen die zehn relevantesten Begriffe aus den jeweiligen Beiträgen den unteren Seitenrand. Durch seinen Satzspiegel erscheint das Buch dabei, so die Intention, selbst als ein Ort des Wohnens, an dem sich „Überschriften und Fußnoten wie eigensinnige Dinge auf vollen Regalen stapeln, von ihnen herunterrutschen, der Schwerkraft folgen.“ Bloße Spielerei mit Typografie? Im Gegenteil: ein lesefreundliches Layoutkonzept für eine anspruchsvolle Lektüre.
Text: Fiona Trede
Theorien des Wohnens. Eine kommentierte Anthologie
Kirsten Wagner (Hg.)
656 Seiten
Jovis Verlag, Berlin 2024
ISBN 978-3-86859-724-0
42 Euro
...geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sondern ausschließlich die ihrer jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser.
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Ein Kulturwissenschaftler | 07.05.2025 21:43 UhrDie feinen Unterschiede
Das Crossover, das keiner wollte, aber jeder brauchte: Heidegger X Bourdieu X BauNetz - Danke für den Buchtipp! Das nächste Mal dann gerne wieder Kant!