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20.01.2025
Ein sehr tiefer Tiefbahnhof
Metrostation in Paris von Dominique Perrault
Mit dem Projekt Grand Paris Express baut sich Paris seit zwei Jahrzehnten radikal um. Neben den Linien in die Innenstadt wird es dann endlich auch zwischen den umliegenden Städten und Dörfern direkte Wege geben. Die Banlieue, von vielen Bewohner*innen des Stadtzentrums sozial und kulturell immer noch miss- und verachtet, wird dann nicht mehr nur von Paris aus definiert, sondern erhält ihr eigenes Gewicht. Das Kernprojekt dieses Umbaus ist die neue Metrolinie 15 mit alleine schon 36 Stationen, die ungefähr dem mittleren Straßenring folgt. Weitere Linien erweitern diesen Ring bis weit in die Île-de-France hinein und mit der M14 gibt es auch eine neue Verbindung von Nord nach Süd. An der Schnittstelle der Linien 14 und 15 wurde nun eine spektakuläre neue Metrostation von Dominique Perrault eröffnet.
Von Nikolaus Bernau
In einer langen S-Bewegung führt die Linie 14 von Saint-Denis Pleyel zum Flughafen Orly. Im Süden kreuzt sie den Metroring in der Gemeinde Villejuif direkt am Großkrankenhaus Gustave Roussy. Villejuif-Gustave Roussy nennt sich der neue Bahnhof denn auch folgerichtig. Am vergangenen Samstag wurde er mit viel politischer Prominenz eingeweiht. Verkehrsminister, Regionalpräsidentin, der örtliche Bürgermeister, es gab reichlich Reden. Nicht zur Sprache kam der Architekt Dominique Perrault, auch bei den Gruppenfotos wurde er regelrecht in den Hintergrund gedrängt – was angesichts der Leistung, die der Entwurf dieses Bahnhofs ist, mehr als nur eine Protokollnachlässigkeit zu sein schien.
Denn die gestalterische Herausforderung des Projekts war gewaltig: Villejuif liegt auf einem Hochplateau und die neue M15 deswegen etwa 50 Meter unter der Erdoberfläche. Um ohne Rücksicht auf Grundstücksrechte bauen zu können, wird die Strecken als Untergrundbahnen angelegt. Das treibt die Kosten des Gesamtprojekts auf etwa 36 Milliarden Euro, davon 600 Millionen Euro alleine für diese Station. Die M 14 liegt etwa zehn Meter über der M 15, was die Situation zusätzlich erschwert.
Blick in den Abgrund
Statt nun endlos lange Tunnel anzulegen, hat Perrault einen Zylinder in die Erde stanzen lassen: 50 Meter tief, 30 Meter breit und nach oben offen. Durch ihn führen Rolltreppen in weiten, langen, edelstählern blitzenden Linien. Hohe Plexiglaswände über den Brüstungen sollen vor dem Abstürzen schützen. Eine gigantische Maschine zum Transport und zur Verteilung der mehr als 100.000 Menschen, die hier täglich erwartet werden. Ein großes Theater, so Perrault im Gespräch, das Bewegung und Technik inszeniert, die Nutzer und Nutzerinnen zusammenbringt und in der unglaublich öden städtebaulichen Situation „eine Plattform“ schafft.
Die ist auch vonnöten. Dieser Teil von Villejuif fällt selbst in der Banlieue von Paris durch städtebauliche Nicht-Planung auf. Da ist das riesige Krebs-Krankenhaus Gustave Roussy, dessen Bettentürme nur mit extrem viel Milde gegenüber der Massenarchitektur der Nachkriegszeit verteidigt werden können. Direkt daneben steht wie ein Denkmal eine phänomenale Komposition aus acht trichterförmigen Wassertürmen, die 1991 als späte Monument des Betonzeitalters entstanden sind. Und eine nahe Parkanlage wird gerne genutzt, ist aber frankreichtypisch von hohen Mauern umgeben. Verloren stehen einige Wohnhäuser und Kleinsthäuser aus der Zwischenkriegszeit daneben. Wirklich keine Gegend, um sich aufzuhalten, und die Wohnhaus-Neubauprojekte, die einige Straßen weiter entstehen, sind bisher auch kein Anlass für einen Besuch.
Umso mehr aber lohnt die Fahrt zu dieser neuen Station. Im Unterschied zur Tradition der Pariser Metro werden die Stationen der M 14 und der M15 nicht mehr als System geplant, sondern individuell gestaltet. Auch so soll den Vororten, wie bei der Eröffnung betont wurde, „Würde“ gegeben werden – darum nämlich geht es wesentlich in diesem Riesenprojekt. Als vor etwa 15 Jahren die Vororte von Paris durch heftige soziale Unruhen erschüttert wurden, begriff die Politik erstmals, dass die Banlieue nicht nur Abschieberaum für ungeliebte Minderheiten, Einwanderer und Arme ist, sondern auch eine Riesenchance bietet, das Pariser Zentrum zu entlasten. Ausgerechnet Präsident Nicolas Sarkozy, wohl einer der korruptesten in diesem Amt, dessen Sprache vor allem gegenüber Einwanderern und Jugendlichen kaum anderes als gewalttätig zu bezeichnen ist, stieß Grand Paris an. 2014 wurden die Pläne bestätigt, nach kaum zehn Jahren werden nun reihenweise die Stationen eingeweiht. Undenkbar etwa in Deutschland.
Nicht nur im Finanzaufwand, auch in der Organisation ist dieses Projekt in Europa singulär. Es mussten sich schließlich Behörden der Kommunen, der Region, der Departements, der Stadt Paris und ihrer durchaus sehr selbstständigen Arrondissements und schließlich des Zentralstaats zusammenfinden. Für das Land ist es derart zentral, dass wohl, so Perrault, selbst die rechtsnationalistische Rassemblement National Marie le Pens es nach einem inzwischen durchaus möglichen Wahlsieg nicht mehr ändern würde. Zwar kann sie kaum genug kriegen von der Beschimpfung der Banlieue als angeblich von islamistischen Migranten beherrschtem Moloch. Doch wohnen hier eben auch ihre Wähler.
Expressionistisches Zirkuszelt
Umso überraschender, dass Perraults Büro gar nicht erst versucht hat, der städtebaulichen Ödnis mit einer großen Geste zu antworten. Stattdessen zeigt sich die Station oberirdisch nur durch eine leichte, schneckenartig ausgeweitete Stahlkonstruktion, das Dach darüber ist wie ein expressionistisches Zirkuszelt gefaltet. Eine Erinnerung an Jahns Berliner Sony Center kommt leicht auf, dessen Entstehungszeit die gleiche ist wie die der Radsport- und der Schwimmhalle in Lichtenberg, mit der Perrault zu Beginn der 1990er seine Karriere begann. Erst nach dem Durchschreiten der gewaltigen, mittig gelagerten Drehtore öffnet sich das Loch in die Erde, wird die eigentliche Dimension der Station deutlich.
Tatsächlich erreicht natürliches Licht auch die unterste Ebene, man sieht nach Oben direkt in den aktuell glattgrauen Himmel, der von den Dachbahnen kaleidoskopartig eingefasst wird. Bei der Eröffnung war es lausig kalt, auch in den Tiefgeschossen noch, die nach Perraults Worten im Sommer wie Winter ein stabiles Klima von etwa 12 bis 15 Grad haben sollen. Das muss sich noch genauso beweisen wie die Hoffnung, die Tauben von diesen idealen Sitz- und Nistplätzen unter der Dachkonstruktion und den Wänden der Umgänge nur mit Soundinstallationen abhalten zu können.
Erwartbar verwies der Architekt auf Piranesis verwirrende Kerker-Zeichnungen als Inspiration, nicht etwa auf zylinderförmige Taubenhäuser des französischen Barock oder die Riesen-Utopien eines Ledoux und Boullée. Es dominiert die große Form über die Details, was hoffentlich auch in ein paar Jahren die angesichts zahlloser Kanten drohende Verschmutzung wird übersehen lassen. Die silbern schimmernden Verkleidungen der Rolltreppen, die langen Durchblicke in den Tunnel der M 14, die ständige Bewegung, die diesen Raum seit der Eröffnung erfüllt – all das beeindruckt.
Eine Überraschung ist die von Tag eins an intensive Nutzung allerdings nicht, denn alleine im Krankenhaus arbeiten mehr als 4.000 Menschen. Und die Erwartung ist, dass sich dank dieser schnellen neuen Verbindung zu anderen Orten der Banlieue und zum Pariser Zentrum bald neue Betriebe ansiedeln werden, die Wohnhausbebauung näher rücken wird und sich dann auch die geradezu chinesische Weite des umgebenden Raums verdichtet. All das verspricht eine große Sensation zu werden. Und vielleicht — Perrault ist allerdings angesichts der Kompetenzkonkurrenzen in den Verwaltungen eher skeptisch — wird der Maßstab ja aufgenommen, die Umgebungsplanung doch noch angepasst und in ein Gesamtkonzept überführt. Dann wäre sogar die riesige Scheibe des Krankenhauses erträglicher.
Fotos: Arthur Jan, Olivier Foucher, Nikolaus Bernau, Dominique Perrault Architecte, Michel Denancé
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