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05.03.2024

Buchtipp: Ad Hoc Baroque

Marcel Raymaekers’ Second-Hand-Häuser in Belgien


Wer durch die jüngst vom Brüsseler Gestaltungskollektiv Rotor herausgegebene Publikation Ad Hoc Baroque. Marcel Raymaekers’ Salvage Architecture in Postwar Belgium blättert, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da ragt ein riesiges Rundbogenportal aus einem asymmetrisch abgeknickten Ziegelbau; ein barocker Erker klebt an einer modernistischen Kubatur; spitze Rahmen von Kirchenfenstern schieben wellenförmige Dächer nach oben. Innenaufnahmen zeigen Wohnlandschaften zwischen Opulenz und Exzess. Man mag spontan an eine Photoshop-Orgie denken oder neuerdings an eine KI, die wahllos mit Stichworten gefüttert wurde. Doch so surreal diese Bauten auch aussehen, es gibt sie wirklich. Zum größten Teil sind es private Wohnhäuser in Vororten und ländlichen Räumen – und sie bestehen fast ausschließlich aus wiederverwendeten Bauteilen. 

Kreiert wurden all diese skurrilen Second-Hand-Architekturen, deren Exzentrik selbst für Belgien ungewöhnlich schräg wirkt, von Marcel Raymaekers. Der 1933 geborene Unternehmer, der zu Beginn der 1950er Jahre auch einige Semester Architektur studiert hatte, betrieb seit 1972 bis zur Insolvenz 2014 eine Art Bautteillager mit integriertem Gestaltungsservice an der Autobahn zwischen Hasselt und Genk. Seinen Laden nannte er „Queen of the South“ – nach einem Dampfer, dessen Verkleidung nun die Fassade des Geschäfts schmückte. Wer hier eine größere Menge Baumaterialien kaufte, bekam Raymaekers’ architektonische Dienstleistung gratis on top. Dabei mischte er die einzelnen Fragmente an Bauvorschriften vorbei auf eine Weise zusammen, die den Bewohner*innen dieser Bauten eine gute Portion Unkonventionalität abverlangte.

Seine Ware bezog Raymaekers größtenteils aus Abrissen, denen im Zuge der Modernisierungswelle im Nachkriegsbelgien viele historische Gebäude zum Opfer fielen. Er fand darüber hinaus überraschende Verwendung für alle möglichen ausgemusterten Objekte: Cockpitkuppeln von Kampfflugzeugen beispielsweise platzierte er als Oberlichter auf einem tief heruntergezogenen Hausdach. Indem er die Bauteile beinahe unverändert wiederverwendete, konservierte er ganz nebenbei immer auch Architekturgeschichte. So vereint das Heim der Familie Boncher Teile eines Schlachthofs in Tienen mit denen eines Militärgebäudes aus Verviers, in einem Haus in Westflandern wiederum hat die Holztreppe aus Gustave Eiffels Schweizer Sommerhaus eine neue Nutzung gefunden.

Die Herausgeber*innen von Rotor erhielten 2018 den Schelling Architekturpreis und bespielten 2010 den belgischen Pavillon auf der Venedig-Biennale. Ihnen ist zu danken, dass sie den mittlerweile 91-jährigen, von der Fachwelt stets verlachten Raymaekers in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt haben. Das Kollektiv, das mit seiner Firma Rotor Deconstruction ebenso die Wiederverwendung von Bauteilen forciert, stieß 2011 eher zufällig auf den Outsider-Architekten und erkannte in ihm einen „Pionier des zirkulären Bauens“. Gleichwohl droht Raymaekers Werk langsam zu verschwinden. Viele der einstigen Bauherr*innen, die sich mit seiner Hilfe ihre Version eines Palastes verwirklichten, ziehen im hohen Alter aus oder sind bereits verstorben. Nachnutzer*innen der Grundstücke nehmen Veränderungen vor oder bauen gleich gänzlich neu.

Die Fotograf*innen Anja Hellebaut und Anthony De Meyere haben gemeinsam mit den Herausgebern Arne Vande Capelle, Stijn Colon, Lionel Devlieger und James Westcott mehr als 50 Bauten besucht und dokumentiert. Das Buch fasst Bilder und kurze Beschreibungen ausgewählter Projekte zusammen, listet Baujahre, Standorte, Auftraggeber*innen. Ergänzt wird das durch eine Vorstellung des Lebenswegs von Raymaekers, mit dem Rotor ebenso wie mit diversen Hausbesitzer*innen Interviews führten. Vier längere Essays zu Raymaekers’ Gestaltungsprinzipien und seiner sich am Rand der Legalität bewegenden Baupraxis komplettieren den Band.

In einem Epilog führen Rotor schließlich detailliert aus, warum wir uns mit Marcel Raymaekers „Gesamtkunstwerk“ beschäftigen sollten: Seine Wertschätzung des Vorhandenen, die fast schon anarchische Art und Weise des Bewahrens und Umnutzens kann als Inspiration dienen und innovative Wege zu einem stärker kreislauforientierten Bauen abseits von Regularien und bürokratischen Vorschriften aufzeigen.

Text: Diana Artus

Ad Hoc Baroque. Marcel Raymaekers’ Salvage Architecture in Postwar Belgium
Arne Vande Capelle, Stijn Colon, Lionel Devlieger und James Westcott (Hg.)
Englisch, 196 Seiten
Selbstverlag, Brüssel 2023
ISBN 9-789464-776652
45 Euro

Vertrieb außerhalb Belgiens über Idea Books


Zum Thema:

Im Antwerpener Kunstzentrum deSingel ist noch bis 17. März 2024 die Ausstellung „Unfolding the Archives #6: Marcel Raymaekers, pioneer in circular architecture“ zu sehen, die Rotor zusammen mit dem Vlaams Architectuurinstituut erarbeitet hat.


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Haus Boncher

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Haus Kelchtermans

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Marcel Raymaekers’ Wohnung

Marcel Raymaekers’ Wohnung

Die Publikation gibt erstmals einen Überblick über das Werk von Marcel Raymaekers.

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