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23.07.2025

Buchtipp: Abriss und Aufbruch

Haus Marlene Poelzig


Am 1. November 2021 fahren zwei Abrissbagger auf ein Grundstück im Berliner Westend. Während draußen auf der Straße fassungslose Menschen mit Transparenten stehen, ist von dem Bestandsbau in der Tannenbergallee 28 kurze Zeit später nichts mehr übrig. Es war nicht irgendein Gebäude, das hier trotz breitem zivilgesellschaftlichem Protest beseitigt wurde, weil der Eigentümer, der Immobilieninvestor cai Group, an dieser Stelle Luxus-Apartments bauen will. Vielmehr handelte es sich um das Wohn- und Atelierhaus, das die Bildhauerin und Architektin Marlene Poelzig 1929–30 für sich, ihren damals bereits berühmten Ehemann Hans Poelzig und die drei gemeinsamen Kinder entwarf. Bereits kurz nach der Errichtung wurde es in zahlreichen internationalen Zeitschriften für seinen modernen Spirit gefeiert.

Mit dem Haus von Marlene Poelzig verschwand jedoch nicht nur ein avantgardistisches und zugleich optimal auf die Bedürfnisse einer Familie zugeschnittenes Bauwerk, sondern auch ein architektonischer Zeitzeuge der Emanzipationsgeschichte von Frauen in Kunst, Kultur und Wissenschaft. Wie viele ihrer Zeitgenossinnen arbeitete Marlene Poelzig nicht nur eng mit einem namhaften Partner zusammen und beeinflusste damit dessen Werk. Sie schuf auch selbst ein starkes Œuvre, das mit dem von ihr geplanten Haus seinen Höhepunkt fand.

Vier Jahre nach der Zerstörung lässt die jüngst erschienene Publikation Haus Marlene Poelzig, Berlin. Abriss und Aufbruch den Bau zumindest auf dem Papier wiederauferstehen. In dem mit viel Engagement und Liebe gemachten Buch laden Hannah Dziobek und Hannah Klein mit ihren Texten zu einem fiktiven Spaziergang durch das Gebäude ein, begleitet von zahlreichen historischen Fotografien.

Nach einzelnen Räumen benannte Kapitel bieten eine anschauliche Beschreibung, wie Poelzig das Haus einst gestaltete. Dies wiederum wird zum Ausgangspunkt für allgemeinere Reflexionen verschiedener Themen, verfasst von zahlreichen Autor*innen. Erläuterungen zu Biografie und Werk Marlene Poelzigs leiten zu feministischen Fragestellungen über, aus Betrachtungen zu Denkmalpflege und Archivpraxis resultiert ein Plädoyer für Umbaukultur. In einem ausführlichen Interview erinnert sich Angelika Blaschke, eine der beiden Töchter der Poelzigs, an ihre Kindheit in der Tannenbergallee. Auch ein umfassendes Werkverzeichnis von Marlene Poelzig ist enthalten, ergänzt durch Literaturempfehlungen.

Hinter dem Buchprojekt steht die Initiative Haus Marlene Poelzig, die sich 2020 mit dem Ziel gründete, das Gebäude zu retten. Sie träumte davon, das völlig verwahrloste und seit Jahren ungenutzte Haus zu sanieren und neu zu beleben – als öffentliches Denkmal, Veranstaltungsort und Künstlerinnenresidenz. Doch zahlreiche Protestaktionen und 5.000 gesammelte Unterschriften für den Erhalt konnten den Abriss nicht stoppen.

Das Schicksal des Poelzig-Hauses steht so auch beispielhaft dafür, wie Bestandsbauten in Berlin immer wieder gegen den Willen der Stadtgesellschaft dem Renditestreben von Investor*innen und Immobilienkonglomeraten zum Opfer fallen. Mehrfache wie undurchsichtige Weiterverkäufe, jahrelanger Leerstand und keinerlei Instandsetzung bis das Gebäude quasi von selbst einstürzt, machen letztlich den Weg frei für hochpreisigen Neubau. Die pompöse „Villa Tannenberg“, die die cai Group nun auf dem Grundstück realisiert und auf einer Vermarktungswebsite schon in blumigen Worten bewirbt, wirkt mit der offensichtlichen Imitation der Kubatur des Poelzig-Hauses wie eine monströse Karikatur desselben. 

„Wir sind gescheitert – und waren doch erfolgreich“, resümiert die Initiative am Ende des lesenswerten Buches. Denn aus den gemeinsamen Protesten ist ein großes, engagiertes Netzwerk entstanden. Mit dem in der Publikation integrierten Manifest „Substanzgesellschaft“ machen die Beteiligten klar, dass sie sich auch weiterhin für einen wertschätzenden Umgang mit dem Baubestand einsetzen werden.

Text: Diana Artus

Haus Marlene Poelzig, Berlin. Abriss und Aufbruch
Initiative Haus Marlene Poelzig, Hannah Dziobek und Hannah Klein (Hg.)
Gestaltung: Irene Szankowsky 

280 Seiten
Urbanophil Verlag, Berlin 2025
ISBN 978-3-9824959-6-5
36 Euro


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Haus Marlene Poelzig, Straßenfassade zur Tannenbergallee, ca. 1930. Fotografie: Max Krajewsky, ca. 1930. Quelle: o.V.: „Haus Poelzig“. In: Die Baugilde. Jg. 12 / 1930, H. 15, S. 1327. Digitalisat: Universitätsbibliothek Bauhaus-Universität Weimar

Haus Marlene Poelzig, Straßenfassade zur Tannenbergallee, ca. 1930. Fotografie: Max Krajewsky, ca. 1930. Quelle: o.V.: „Haus Poelzig“. In: Die Baugilde. Jg. 12 / 1930, H. 15, S. 1327. Digitalisat: Universitätsbibliothek Bauhaus-Universität Weimar

Marlene Poelzig (1894–1985), Fotograf*in und Datierung unbekannt. Quelle: Erbgemeinschaft Marlene Poelzig Hamburg

Marlene Poelzig (1894–1985), Fotograf*in und Datierung unbekannt. Quelle: Erbgemeinschaft Marlene Poelzig Hamburg

Blick durch das Speisezimmer der Poelzigs auf Terrasse, Garten und Grunewald, ca. 1930. Fotografie: Edda Reinhardt, 1930. Quelle: von Steinbuchel, Rambald: „Haus Poelzig. Berlin-Westend“. In: Sport im Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft. Jg. 36 / 1930, H. 16, S. 1196. Digitalisat: Österreichische Nationalbibliothek ANNO Historische Zeitungen und Zeitschriften

Blick durch das Speisezimmer der Poelzigs auf Terrasse, Garten und Grunewald, ca. 1930. Fotografie: Edda Reinhardt, 1930. Quelle: von Steinbuchel, Rambald: „Haus Poelzig. Berlin-Westend“. In: Sport im Bild. Das Blatt der guten Gesellschaft. Jg. 36 / 1930, H. 16, S. 1196. Digitalisat: Österreichische Nationalbibliothek ANNO Historische Zeitungen und Zeitschriften

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