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03.09.2025

Buchtipp: Yes, We Care!

Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl


Hundert Jahre „Neues Frankfurt“ (1925–30) – die Kulturinstitutionen der Mainmetropole feiern dieses Jubiläum seit Beginn des Jahres mit einer Vielzahl an Ausstellungen, Talks, Festen und Stadtführungen. Im Museum Angewandte Kunst MAK läuft noch bis Januar 2026 die Ausstellung „Yes, we Care!“– im Doppelpack mit „Wer war das Neue Frankfurt?“, einer Art Einstiegsausstellung in das großangelegte, reformatorische Wohnungs- und Städtebauprojekt unter der Leitung von Stadtbaurat Ernst May

Die Schau nimmt Bauten und Einrichtungen des Neuen Frankfurt in den Fokus, denen Konzepte des Gemeinwohls eingeschrieben sind. Bei Spector Books haben Kuratorin Grit Weber und MAK-Direktor Matthias Wagner K den gleichnamigen Katalog herausgegeben. Die Publikation ordnet die in der Ausstellung vorgestellten Beispiele der Frankfurter Gestaltungsmoderne in die generelle Entwicklung einer staatlich organisierten Daseinsfürsorge in der Weimarer Republik (und darüber hinaus) ein. 

Unterteilt ist das Buch in die großflächig durch historisches Bildmaterial eingeleiteten Kapitel Bildung, Gesundheit, soziale Fürsorge sowie Haushalt und Wohnen. Je ein kurzes Intro beschreibt, wie zwischen den Kriegen in Frankfurt mit dem forcierten Siedlungsbau auch die soziale Stadtentwicklung mit der Einrichtung von unter anderem Gesundheitsämtern, Stätten der Erwachsenenbildung und Zentralwäschereien voranschritt – beides auf hohem gestalterischen Niveau. Es folgen 18 Gastbeiträge, die neben damaligen und heutigen Strategien kommunaler sowie konfessioneller Gemeinwohlpflege auch die ihnen zugrunde liegenden (respektive ihre Auswirkung auf) Gesellschafts- und Geschlechterbilder und Familienstrukturen untersuchen

Joachim Scholz
und Jörg W. Links Übersicht über reformpädagogische Bestrebungen in der Weimarer Republik (sowie ihre Resonanz im Schulwesen) wird mittels eines Aufsatzes von Jutta Frieß um zwei Frankfurter Beispiele vertieft: die Reformschulen Schwarzburg und Röderberg, von denen letztere in Martin Elsaessers 1930 eingeweihtem Neubau am Bornheimer Hang ihr Zuhause fand. Auch der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum und sozialen Angeboten wie Kinderbetreuung wird kritisch hinterfragt: So beispielsweise in Gabu Heindls Beitrag zum Neuen Frankfurt und dem Roten Wien, in dem sie damalige Raumplanungen und aktuelle Vorstellungen von Wohnraum, Wohlstand und Teilhabe vergleicht. 

Ergänzend finden drei historische Quellen hier ihre (Neu-)Veröffentlichung:  Martin Elsaesser und Margarete Schütte-Lihotzky gehören sicher zu den bekanntesten Protagonistinnen des Neuen Bauens in Frankfurt. Elsaessers Aufsatz legt seine Gedanken über die Planung einer psychiatrischen Klinik dar, während Schütte-Lihotzky die Grundzüge eines neu zu errichtenden Lungensanatoriums beschreibt. Aus beiden Texten spricht der Drang nach einem Gesundheitswesen, das mit modernen Gestaltungsprinzipien und getreu dem Leitmotiv des Neuen Frankfurt „Licht, Luft, Sonne“ die Patient*innen im Blick hat. 

Aus dem Jahr 1975 stammt der Beitrag von Silvia Federici. Als Aktivistin in der „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne forderte sie mehr Sichtbarkeit für die in der Überzahl von Frauen ausgeführte, unbezahlte und doch für die Produktivität im Kapitalismus unerlässliche Care- und Reproduktionsarbeit. Auch dem Exportschlager Frankfurter Küche wurde vorgeworfen, Hausfrauen in kleinrationalisierten Zellen einzuschließen und die Mehrfachbelastung berufstätiger Frauen mithilfe räumlich-organisatorischer Optimierung im häuslichen Bereich weiter zu verfestigen, anstatt sie grundsätzlich infrage zu stellen. 

Schütte-Lihotzky, die den Einbauküchenvorgänger im Zuge von Ernst Mays Siedlungsbauprogramm entwickelte, dachte selbst sehr wohl über tiefer greifende Reformen der Hausarbeit und der normativen Kleinfamilie nach. Dies machen auch Veronika Duma und Marie-Noëlle Yazdanpanah in ihrer neuerlichen, feministischen Prüfung der Frankfurter Küche deutlich. Der hohe wirtschaftliche und auch zeitliche Druck hätte nach Aussage der Wiener Architektin jedoch der Akzeptanz radikalerer Ansätze wie die Einküchenhäuser entgegengestanden.

Die Vielzahl und die bauliche Qualität der sozialen Initiativen und Strukturen und auch die Selbstverständlichkeit, mit der sich Frankfurt 1926 auf einer Düsseldorfer Gesundheitsmesse als soziale Stadt präsentierte, erstaunen heute. Einer aufkommenden verklärten Wehmut begegnen die Herausgeber*innen jedoch, indem sie Machtgefüge, Rollenzuschreibungen und das Gender-Care-Gap präzise herausarbeiten. So liest sich das Buch als teils kämpferischer Appell, die vor 100 Jahren angelegten Konzepte und Ideen im Hinblick auf aktuelle Missstände zu befragen: die Care-Krise und die Unterrepräsentation bestimmter Gruppen im urbanen Leben.

Text: Kathrin Schömer Lehne

Yes, we care! Das Neue Frankfurt und die Frage nach dem Gemeinwohl
Grit Weber und Matthias Wagner K (Hg.)
336 Seiten
Spector Books, Leipzig 2025
ISBN 9783959058872
32 Euro


Zum Thema:

museumangewandtekunst.de


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