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01.01.1998

Jüdische Baumeister in Deutschland. Architektur vor der Shoah

Bücher im BauNetz


Wachsendes Interesse
Seit einigen Jahren gibt es ein zunehmendes Interesse am Wirken deutsch-jüdischer Architekten. Dabei erfährt insbesondere die Bauhaus-Moderne von Tel Aviv besonderes Augenmerk sowie die Rolle deutschsprachiger Architekten beim Aufbau des Staates Israel. Vor einem guten Jahr legte Myra Warhaftig ein umfassendes biographisches Lexikon vor, in dem sie eine Vielzahl von Architekten vorstellte, die in der Zeit von 1918 bis 1948 in Palästina gelebt und gebaut haben. In diesem Jahr nun, rechtzeitig zum fünfzigjährigen Bestehen des Staates Israel, folgt Klemens Klemmers Buch über „Jüdische Baumeister in Deutschland. Architektur vor der Shoah“, dessen zeitlicher Rahmen unmittelbar bis an die Publikation von Warhaftig heranreicht. Obwohl beide Bücher biographisch angelegt sind und sich chronologisch wie thematisch zu ergänzen scheinen, sind sie dennoch grundverschieden.


Jüdische Architekturgeschichte?
Während Warhaftig den Stoff in Form eines Architektenlexikons bündelt, dem eine kurze Einleitung vorangestellt ist, unternimmt Klemmer auf 220 Seiten den Versuch, für den deutschsprachigen Raum eine jüdische Architekturgeschichte von den Anfängen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu skizzieren, der im Anhang ein fünfzigseitiges Architektenverzeichnis beigefügt ist. Im Vorwort beklagt er das Fehlen einer spezifisch jüdischen Architekturhistoriographie, wofür er insbesondere die einseitige Ausrichtung der Architekturhistoriker auf die christliche Baugeschichte verantwortlich macht. Bis zu einem gewissen Grade trifft dies sicher zu, doch gibt es ausschlaggebendere Gründe dafür, daß es im Gegensatz beispielsweise zu einer „Baukunst des Islam“ noch kein entsprechendes jüdisches Pendant gibt. Die Schwierigkeit ergibt sich allein durch die besondere Situation des Bauens in der Diaspora, die eine eigenständige Architektur fast ausschließlich bei kultischen Bauten herauskristalisieren ließ. Diese Situation erschwert das Unterfangen, eine genuin jüdische Architekturgeschichte zu beschreiben, wenn sie denn über den – mittlerweile verhältnismäßig gut untersuchten – Synagogenbau hinausreichen soll.


Doppel- und Mehrfachbegabungen
Es ist daher auch kein Zufall, daß Klemmer ebenso wie Warhaftig biographisch vorgeht. Sein Augenmerk gilt weniger der Architektur, sondern den Architekten. Doch die chronologische Aneinandereihung von Biographien jüdischer Architekten ergibt per se noch keine jüdische Architekturgeschichte, sondern eine – gewiß nicht minder wissenswerte – Sozialgeschichte jüdischer Architekten. Klemmer sieht Gemeinsamkeiten und Verbindendes auch weniger auf architektonischer Ebene, sondern in grundsätzlicher Natur. Seine Hauptthese ist die, daß die Neigung zur theoretischen Reflexion bei Angehörigen des „Bücher liebenden Volkes“ besonders ausgeprägt gewesen sei: „Bei den deutschsprachigen Architekten jüdischen Glaubens“, so Klemmer, „findet man vielfach eine Doppel- oder Mehrfachbegabung. Viele jüdische Architekten sind stets auch als Fachschriftsteller oder als Architekturjournalisten tätig gewesen, entsprach es doch ihrem tiefen Ausdrucks- und Kommunikationsbedürfnis“. Eben in dieser Veranlagung sieht er auch den Grund, weshalb heutzutage Architekten wie Eisenman, Gehry und Libeskind seines Erachtens „nirgendwo so erfolgreich sind wie in Deutschland, weil ihr Beitrag am hiesigen Geistesleben durch ihr intensives Engagement besonders hoch ist. Damit übernehmen sie wieder eine Rolle, die die jüdischen Baumeister einst inne hatten“.


Fragen und Mißverständnisse
Die Leichtigkeit, mit der Klemmer solche Sätze von der Hand gehen, hat etwas sehr Unbefangenes, doch fragt man sich mitunter, ob diese Unbefangenheit der konstatierten Geistestiefe jüdischer Architekten noch angemessen ist. Man gewinnt den Eindruck, einen verhältnismäßig rasch verfaßten Essay zu lesen, in dem viel Wissenswertes angesammelt, aber leider nicht mit der nötigen Sorgfalt behandelt worden ist. Selbst das Architektenverzeichnis im Anhang provoziert eine Fülle von Fragen und Mißverständnissen. So sind einige Architekten aufgeführt, die dort eigentlich nicht hingehören, weil sie nicht im deutschsprachigen Raum gewirkt haben (M. Ginsburg, M. de Klerk, P. Chareau) bzw. gar keine Juden waren, sondern als „Judenknecht“ von den Nazis aus ihrem Amt geworfen wurden (B. Paul) – was der Leser freilich nicht erfährt. Ebenso vermißt man Quellen- und Literaturverweise, die gerade bei so einem speziellen Thema von großem Nutzen sind und das Lexikon von Myra Warhaftig zu einem soliden Kompendium machen. Am Ende bleibt der Eindruck, daß es wohl angemessener gewesen wäre, den jüdischen Architekten in Deutschland ebenfalls ein biographisches Lexikon zu widmen, anstatt in einem kühnen Ritt eine jüdische Achitekturgeschichte zu umreißen. Wollte man tatsächlich einer jüdisch-nationalen Architektur nachspüren, hätte man besser die israelische Architektur des letzten halben Jahrhunderts untersucht. Das fünfzigjährige Jubiläum des Staates Israel wäre dafür jedenfalls ein geeigneterer Anlaß gewesen. (Markus Jager)


Klemens Klemmer
Gebunden, 288 Seiten mit 70 S/W-Abbildungen,
Deutsche Verlags-Anstalt DVA, Stuttgart 1998
ISBN: 3-421-03162-2


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