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08.10.2015

The Dialogic City: Berlin wird Berlin

Bücher im BauNetz


Von Luise Rellensmann

Berlins neuer Senator für Stadtentwicklung Andreas Geisel trägt einen Ledergürtel aus dem Dong Xuan Center in seiner Jeans, obwohl es im Dong Xuan Center planungsrechtlich keine Gürtel zu kaufen geben dürfte. Die Gewerbehallen des „größten Asiamarkts Berlins“ liegen in einem Industriegebiet im Berliner Bezirk Lichtenberg. Gewerbe, Gastronomie oder Wohn- und Ateliernutzungen sind hier nur geduldet. Die dort ansässigen besten vietnamesischen Restaurants der Stadt, in denen der Senator auch gern isst, sind offiziell als Betriebskantinen angemeldet. Eine Initiative zur Veränderung der planungsrechtlichen Situation, die kulturelle oder sportliche Angebote auf dem Gelände ermöglichen und bisher leerstehende Wohngebäude nutzbar machen könnte, ist seitens des Senats allerdings nicht in Sicht. Das stellte sich am vergangenen Dienstagabend in einer Diskussion zwischen dem Architekten Arno Brandlhuber und Geisel heraus, die sich anlässlich der von Brandlhuber mitkuratierten Ausstellung Dialogic City: Berlin wird Berlin in der Berlinschen Galerie trafen.

Die Schau ist Teil der vom Senat geförderten Initiative Stadt/Bild, anlässlich der vier führende Berliner Institutionen zeitgleich thematisch aneinander angelehnte Ausstellungen zeigen. In der Berlinischen Galerie werden rund 500 unrealisierte Wettbewerbsentwürfe der jüngsten Berliner Planungsgeschichte gezeigt, die in langen Regalen auf ihre laufende Katalogisierung warten, Wesentlicher Bestandteil der Ausstellungskonzeption, ja ihr Ausgangspunkt ist die begleitende Publikation, die Arno Brandlhuber mit seinen Co-Autoren, dem Architekten und Autor Florian Hertweck und dem Grafiker und Architekturforscher Thomas Mayfried konzipiert hat, und die zur Ausstellung im Verlag der Buchhandlung Walther König erschienen ist.

Darin ist das Dong Xuan Center eines von vielen Beispielen aus einem reichen Fundus außergewöhnlicher und gleichzeitig berlin-typischer Orte, die stellvertretend für den „dialogischen“ Charakter der Stadt stehen. Den Begriff des Dialogischen verstehen die Autoren im Sinne des französischen Philosphen Edgar Morin. Dieser schlägt vor zwei Dinge gleichzeitig zu denken, ohne das eines der beiden seine Identität und Qualität einbüßen muss. „Auf Berlin übertragen hieße das beispielsweise, die kritische Rekonstruktion und das Modell der Stadtlandschaft nicht gegeneinander, sondern zusammen zu denken, ohne daraus eine Synthese zu machen”, erklärt Hertweck im Gespräch mit Architekturkritiker Michael Mönninger und dem ehemaligen Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann. Zu viert, gemeinsam mit Arno Brandlhuber, erörtern sie letztgenannte Themen und lassen die IBA 1984/87, die Bebauung am Potsdamer Platz und den Weg dorthin noch einmal im Streitgespräch Revue passieren.

Kritische Rekonstruktion oder Stadtlandschaft? Goldene Mitte oder Polyzentralität? Penthouse oder Sozialwohnungsbau? Tempelhofer-Feld-Bebauung ja oder nein? Zu oft werden in Berliner Planungsdebatten Fragen wie diese gestellt, dabei ist Berlin keine Stadt des Entweder-oder, – es gilt das Sowohl-als-auch. Das Buch über die dialogische Stadt thematisiert genau diese Konflikte. Titel der sieben Abschnitte bilden die vermeintlich antagonistische Wortpaare: „Zentren – Mitte”, „Stadt – Natur”, „Fiktion – Realität”, „Fremdbild – Eigenlogik”, Gemeinschaft – Individualität”, „Teilhabe – Governance” und „Boden – Eigentum”.

Gefüllt sind die Kapitel unter anderem mit Interviews, in denen gegensätzliche Positionen des werdenden Berlins mit Brandlhuber und Hertweck an der Seite aufeinandertreffen. Darunter finden sich Protagonisten der letzten 25 Jahre wie Hans Stimmann, der frühere Kultursenator Thomas Flierl und Volker Hassemer, der zu seiner Amtszeit als Stadtentwicklungssenator u.a. den Abriss des Lenindenkmals am Platz der Vereinten Nationen durchsetzte.

Das Buch knüpft thematisch an Philipp Oswalts Klassiker Berlin, Stadt ohne Form. Strategien einer anderen Stadt an, in dem Oswalt bereits im Jahr 2000 deutlich machte, dass Berlin sich in seiner Geschichte und Architektur nicht auf eine einzige Formel reduzieren lässt. In Dialogic City lässt sich Oswalt – der vielleicht bekannteste Schlosskritiker Berlins – auf ein Gespräch mit Manfred Rettich, dem Vorstand und Sprecher der Stiftung Berliner Schloss ein. Weitere Beiträge im selben Kapitel „Fiktion und Realität“ liefern Florian Heilmeyer sowie Nikolaus Kuhnert und Anh-Linh Ngo.

Auch Pop-Theoretiker Diedrich Diedrichsen ist vertreten. Er spricht im Kapitel „Fremdbild und Eigenlogik“ mit dem Berliner Staatssekretär für kulturelle Angelegenheiten Tim Renner über die Gegenkultur der 90er zwischen Kulturalisierung und Ökonomisierung und hält treffend fest: „In dem Moment, wo man glaubt, dass irgendeine Brache nach Berliner Verständnis so aussieht, als könnte man sie zwischennutzen, stellt sich heraus, dass man in einer anderen Stadt und in einem anderen Land ist und es ganz andere Parameter gibt.“ Was für Berlin gilt, gilt noch lange nicht woanders.

Neben den bekannten Namen finden sich auf den insgesamt 670 Seiten hinter dem silberverspiegelten Einband dieses Taschenbuchs aber auch junge Stimmen, denn Dialogic City ist maßgeblich im Kontext des von Brandlhuber geleiteten Masterstudiengangs für Architektur und Stadtforschung der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg „Akademie c/o“ mitentwickelt worden. So geben Studierende Einblick in die Produktionsbedingungen der Kreativszene Berlins („Hedonismus und Ökonomie“), oder schreiben über das Zentrum Kreuzberg und die Ökohäuser von Frei Otto. Die sparsame Bebilderung der Texte wird durch eine Vielzahl von Isometrien ergänzt, die von Brandlhubers Studierenden eigens für die Publikation angefertigt wurden.

Mit Bikini Berlin zeigt Arno Brandlhuber auch eine – im gemeinsam mit Frank Barkow geleiteten Havard GSD Studio Berlin 2015 entstandene - dialogische Antwort auf die 2014 durch die Initiative 100% Tempelhofer Feld per Volksentscheid erzwungene Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes: Bebauung des Feldes und 100 Prozent Freihalten des Feldes schließen sich nicht zwangsläufig aus.

Dialogic City ist vor allem als Begleitbuch zur eingangs erwähnten Ausstellung gedacht. Nach einer historischen Einführung in die Entwicklung des polyzentrischen Berlins ist es voll gepackt mit Texten und Interviews, zugleich loser Reader und dichtes Kompendium, in dem sich die gegenwärtige Diskussion um die zukünftige Entwicklung Berlins spiegelt. Von den insgesamt 8.000 Exemplaren der ersten Auflage sind nur 800 in den freien Handel gegangen, die restlichen 7.200 Exemplare warten in der Berlinischen Galerie auf Leser.

The Dialogic City: Berlin wird Berlin
Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried
Hrsg. von Arno Brandlhuber, Florian Hertweck & Thomas Mayfried
Buchhandlung Walther König, Köln 2015
Softcover, 672 Seiten, 20 Euro

www.buchhandlung-walther-koenig.de


Fotos: Blick in die Ausstellung „The Dialogic City: Berlin wird Berlin“, Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried, © The Dialogic City


Zum Thema:

www.stadt-bild.berlin


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