Der Sammler – ein harmloser Besessener? Oder ein systematischer Kreativer! Gleich zu Beginn seines im Oktober erschienenen Buches 111 Architekturbaukästen verortet der Grafiker Claus Krieger sich selbst im anthropologischen Erklärungsmodell des Homo Ludens, das der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga in den späten 1930er Jahren entwarf. Demnach liegt der Ursprung aller Kultur in der menschlichen Neigung zum Spiel. Und speziell im „reglementierten Spielen, welches Konzentration, Geschicklichkeit, Geduld und Einfallsreichtum erfordert“, sieht Claus Krieger den Kern seiner persönlichen Sammel- und Modellbauleidenschaft.
Rund sechzig Stücke aus Kriegers Privatsammlung präsentiert das Deutsche Architekturmuseum DAM derzeit in der Schau „Architekturbaukästen 1890–1990“, und zwar folgerichtig als Mitspielausstellung. Zwischen den aufgebauten Originalbaukästen laden im großflächigen Erdgeschoss am Frankfurter Schaumainkai acht Stationen zum Bauen und Konstruieren ein – mit eigens im Maßstab 3:1 vergrößert angefertigten Baustein-Repliken aus Holz, 3D-Druck-Filament oder Filzwerkstoff.
Anlässlich der Ausstellung hat der Jovis Verlag einen in schöner Übersichtlichkeit gestalteten und gründlich illustrierten Katalog zur Sammlung Claus Krieger herausgebracht, der ebenso informativ wie unterhaltsam die besondere Perspektive auf die Verbindung von Bau- und Spielkultur transportiert. Um fast das doppelte der Ausstellungsexponate angewachsen, umfasst er die 111 bemerkenswertesten Exemplare, die Krieger aus seinen wohl noch um einiges umfangreicheren Beständen für den Band zusammengestellt hat. Chronologisch und nach Material gegliedert geht es um Gebäude-Holzbaukästen, Stadtbaukästen aus Holz, Steinbaukästen, Kunststoffbaukästen.
In der Regel auf einer Doppelseite wird jeder Architekturbaukasten in seiner Besonderheit knapp eingeordnet, systematisch erfasst – Hersteller, Zeit, Ort, Kasten, Maße, enthaltene Bausteine, Planbeilagen – und fotografisch dokumentiert. Dabei zeigen rund 500 Abbildungen sowohl die einsortierten Baukästen mit ihren geometrisch geordneten Spielsteinen als auch die aufgebauten Gebäudeminiaturen, die „Seele der Kästen“. Der Aufbau der Modelle zur Veranschaulichung des eigentlichen Spielzeugs bot Krieger zugleich die Möglichkeit, das jeweilige System auf seine Funktionalität hin zu testen. So erfahren wir etwas über Materialqualität, Details, Konstruktionsprinzipien und auch manches über schwer verständliche Anleitungen, schlechte Passgenauigkeit oder die mangelhafte Verarbeitung der Bauteile, die im Fall des Spiess Modell-Lehrbaukastens aus den 1930er Jahren gar dazu führte, „dass leider kein Richtfest gefeiert werden konnte.“
Das Blättern gerät zum faszinierenden Durchwandern von Spielzeuglandschaften unterschiedlicher Länder über einen Zeitraum von rund 150 Jahren. Es bieten sich zahlreiche Bezüge und Anknüpfungspunkte zur Architektur-, Technik-, Industrie- und Sozialgeschichte. Die kurzen Texte verdeutlichen Zusammenhänge mit den jeweils herrschenden Bedingungen oder gesellschaftspolitischen Idealen, die sich in unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen und Bildungsinhalten spiegeln.
So wurde im Historismus des 19. Jahrhunderts viel Wert auf Fassadenstrukturen gelegt, um 1912 war der Kasten Romanische Baukunst – Lieblingsbaustil von Kaiser Wilhelm II. – ein Bestseller. Um die Jahrhundertwende verbreiteten sich in Deutschland, Spanien oder der Schweiz Villenmodelle im Landhaus- und Heimatstil. Insbesondere Brandt’s Städte-Baukästen dokumentieren den Rückzug aus den zunehmend industrialisierten Stadtzentren in die vorstädtische Idylle. 1934 konnten Kinder mit dem Baukasten Armator Festungen und Kriegsschiffe bauen.
Entwürfe für Baukästen stammen unter anderem vom Kunstmaler Karl Throll, dessen Münchner Kindl-Baukasten handlackierte Bausteine beinhaltete, und vom Werbegrafiker Carl Zweifler, der 1915 für seinen Schweizerbaukasten den höchsten Preis des Schweizerischen Werkbunds gewann. Der der konservativen Moderne zuzurechnende Architekt Wilhelm Kreis konzipierte in den 1920er Jahren die in Wien hergestellten Ingenius-Baukästen mit Nut- und Federprinzip, die sich auf zeitgenössische Bautendenzen, Betonarchitektur und Hochhausbau bezogen und deren Deckelmotive an Fritz Langs Film Metropolis erinnern.
Technische Baukästen waren auch im Schulunterricht verbreitet, beispielsweise die in Nürnberg produzierte Reihe Bing Steinbaukästen, in der 1915 ein Lehrbaukasten über Regeln im Bogen- und Gewölbebau erschien. Die ursprünglich von den Brüdern Gustav und Otto Lilienthal entwickelten und auch heute wieder hergestellten Anker-Bausteine mit ihrem charakteristischen Leinölduft waren um 1930 ein international verbreiteter Markenartikel mit mehrsprachigen Bauanleitungen.
Hochinteressant sind die Baukästen der Nachkriegszeit, die den baulichen Wettbewerb zwischen den Systemen dokumentieren, darunter die in der DDR angebotenen Pewesti Großplattenbauten in Fertigbauweise oder Wir bauen auf! im Stil der damaligen Stalinallee in Ost-Berlin. Der in Wien produzierte Baukasten Payer Architektonischer Modellbau bezog sich namentlich auf den Architekten des sogenannten Sofortwohnprogramms der Nachkriegszeit. In den USA entstanden Baukästen wie American Skyline oder Satellite City, eine Stadt im Weltall.
Das Kapitel über Kunststoffbaukästen beginnt um 1940 mit den belgischen Batima-Steinen aus Galalith und den englischen Minibrix-Baukästen. In den folgenden Jahrzehnten wurde mit unterschiedlichen Plastikmaterialien sowie Nocken-, Noppen, und Stecksystemen experimentiert. Ab 1949 produzierte Ole Kirk Christiansen im dänischen Billund seine ersten farbigen Klemmbausteine, die sozusagen den Grundstein für das spätere Lego-Bausteinimperium bildeten. Aber das ist eine andere Geschichte und ein eigenes Sammelgebiet.
Text: Ulrike Alber-Vorbeck
111 Architekturbaukästen. Sammlung Claus Krieger
Claus Krieger (Hg.)
272 Seiten
Jovis Verlag, Berlin 2025
ISBN 978-3-98612-274-4
38 Euro