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19.11.2025
Buchtipp: Reanimierte Utopien
Telling the Story. New Towns, New Narratives
In ganz Europa gibt es über 200 New Towns, also „Neustädte“, die – nach der Definition in diesem Buch – zu einem ganz bestimmten Moment und oft für einen einzelnen Zweck in sehr kurzer Zeit geplant und gebaut wurden. Natürlich sind solche Neustädte nicht nur ein Phänomen der Moderne. Aber die kürzlich erschienene Publikation Telling the Story. New Towns, New Narratives beschränkt die Auswahl doch auf Projekte aus dem 20. Jahrhundert – und man begreift schnell, dass man damit schon genug zu tun hat.
Von Kohtla Järve in Estland bis San Polo in Norditalien, von Dimitrovgrad in Serbien bis Milton Keynes in England und von Ilijaš in Bosnien-Herzigovina bis nach Berlin-Hellersdorf und ins Fritz-Heckert-Gebiet von Chemnitz geht es in diesem Buch. Insgesamt wird man durch 16 Fallstudien geführt. Auch wenn die Städte in Ost- und Westeuropa aus unterschiedlichen politischen und ökonomischen Systemen entstanden sind, so kämpften sie heute doch mit vergleichbaren Herausforderungen – so lautet eine der Thesen des kompakten Buches.
„Nahezu alle New Towns haben einen negativen Ruf“, schreiben Michelle Provoost und Alex Axinte, die das Buch im Auftrag des International New Town Institute INTI erarbeiteten. In Westeuropa sei dieser Ruf eng verknüpft mit dem als unmenschlich und monoton empfundenen Nachkriegsfunktionalismus, in Osteuropa eher mit dem Scheitern des Sozialismus. Um dieser „Negativ-Identität“ zu entgehen, sei es notwendig, dass die Neustädte ihre Entstehungsgeschichten erzählen – auch deshalb, um sie sich selbst bewusst zu machen. Denn diese Geschichten handeln meist von hehren, manchmal sogar utopischen Zielen und von der großen Heroik einer solchen Unternehmung. Denn eine neue Stadt zu gründen ist keine Kleinigkeit. Die „New Towns“ bräuchten also „New Narratives“, um sich ein Stück weit neu zu erfinden.
Neue Narrative sind gerade in jenen Städten dringend, die einst für einen bestimmten Zweck errichtet worden waren, der heute so nicht mehr existiert – etwa um die Arbeiter*innen einer Fabrik zu behausen. So wie Nowa Huta im Osten von Krakau, das ab 1949 für ein neues Eisenhüttenkombinat errichtet wurde. Oder Nova Gorica in Slowenien, das wegen veränderter Grenzziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg als neue Regionalhauptstadt errichtet wurde. Oder der vielschichtige Fall von Visaginas in Litauen, wo ab 1975 die Arbeiterfamilien des neuen sowjetischen Kernkraftwerks Igalina untergebracht wurden.
Auf dem zentralen Platz von Visaginas steht eine überdimensionale Digitaluhr, die neben Zeit und Datum auch die aktuelle Radioaktivität (!) in der Stadt anzeigt. Es ist der vermutlich größte öffentliche Geigerzähler der Europäischen Union! Man erkennt daran noch heute, wie stolz die Stadt einst auf die Sicherheit ihrer Energieproduktion war. Doch mit dem EU-Beitritt endete der Betrieb des AKWs – der Reaktor ist vom gleichen Typ wie der in Tschernobyl. Seit 2009 ist das Kraftwerk vollständig stillgelegt, seitdem hat sich die Zahl der Bewohner*innen halbiert. Dabei bildet Visaginas als Folge der Arbeitsmigration in seinen Gründungsjahren noch immer ein Zentrum der russischsprachigen Minderheit in Litauen.
Neustädte wie Visaginas oder Nowa Huta haben einen anderen Kampf um die eigene Identität zu bewältigen als etwa die Großwohnsiedlungen Hellersdorf in Berlin, Spijkenisse in Rotterdam oder Évry-Sénart im Großraum von Paris. Denn diese hängen noch immer an prosperierenden, historisch gewachsenen Großstädten und müssen daher weniger existenziell um ihr Image kämpfen. Wenn Industriestädte ihre Industrie verlieren, oft genauso schlagartig wie sie einst neu geplant wurden, dann geht es ganz einfach um deren grundsätzliche Existenzberechtigung.
Es ist eines der Verdienste dieses Buches, dass es ihm gelingt, die 16 Fälle nebeneinander zu präsentieren, ohne sie über einen Kamm zu scheren. In den individuellen Stadtporträts – die meisten eher zu kurz als zu lang – werden die Unterschiede ebenso deutlich wie die Gemeinsamkeiten. Und schließlich taugt dieses Buch auch als anregender Reiseführer zu den Neustädten des 20. Jahrhunderts in Europa. Denn nicht nur den Geigerzähler von Visaginas möchte man doch gerne einmal selbst sehen, auch das Kino „Point“ in Milton Keynes, die U-Bahnstation von Spijkenisse oder das Stadtzentrum von Dimitrovgrad mit seinen Wohnbauten im Stil des Sozialistischen Realismus und dem Rathaus – eine Kombination aus Rotunde und Hochhaus – scheinen einen Abstecher absolut wert zu sein.
Text: Florian Heilmeyer
Telling the Story. New Towns, New Narratives
International New Town Institute (Hg.)
Michelle Provoost und Alex Axinte (Redaktion)
Englisch
242 Seiten
Eigenverlag des International New Town Institute, Rotterdam 2025
ISBN 978-90-817520-4-6
20 Euro
Das im Eigenverlag des INTI erschienene Buch kann unter anderem über NAi Booksellers bestellt werden.
Zum Thema:
Nova Gorica wird nicht nur in diesem Buch vorgestellt, sondern ist aktuell auch eine von Europas Kulturhauptstädten. Wir haben sie mit der BauNetz WOCHE #673 „Nova Gorica. Zwischen Utopie, Casinohölle und Kulturdestination“ besucht.
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Neustadt in Lettland: Stolz präsentiert der große Geigerzähler auf dem zentralen Platz von Visaginas die aktuelle Radioaktivität in der Stadt

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