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07.10.2020

Buchtipp: Originalton Mies

Die Lohan-Tapes von 1969


Wer kann schon von sich behaupten, noch nie etwas verlegt zu haben? Kommt in den besten Haushalten vor! Dass allerdings das MoMA in New York als Verwalter des Archivs von Ludwig Mies van der Rohe einen Satz Tonbänder mit Lebenserinnerungen des Architekten nicht mehr findet, ist ein Unding und zugleich Ausgangpunkt für das vorliegende Buch. Dirk Lohan, Enkel und auch Mitarbeiter von Mies, hatte kurz vor dem Tod des berühmten Großvaters begonnen, gemeinsame Gespräche aufzuzeichnen. Es sei nicht gelungen, die gesamte Lebensgeschichte festzuhalten, bedauert Lohan im Vorwort. Man habe erst spät mit den Aufnahmen begonnen, und Mies’ Gesundheit war zu dieser Zeit bereits stark angegriffen. Wie viele Bänder insgesamt zusammenkamen, ist nicht bekannt – nur dass sie als Teil des Nachlasses ins MoMA gelangten und dort aus unerklärlichen Gründen heute nicht mehr auffindbar sind. Erhalten ist die Kopie eines Typoskripts, das vermutlich nur einen Auszug aus den Gesprächen wiedergibt und nun erstmals als Ganzes veröffentlicht ist.

In fast schon detektivischer Kleinarbeit gelang es dem Mies-Experten und emeritierten Architekturtheorie-Professor Fritz Neumeyer, die Gespräche auf Sommer 1969 – also die letzten Wochen vor Mies’ Tod am 17. August – zu datieren. Neumeyer zeigt das Protokoll in zwei Fassungen: einmal im Original als Faksimile, ohne Umlaute und ausschließlich in Großbuchstaben verfasst, und in einer korrigierten, vor allem um falsch wiedergegebene Namen bereinigten Abschrift. Er vermutet, der unbekannte Autor des Typoskripts sei der deutschen Sprache nur bedingt mächtig gewesen und habe zudem einige Lücken im Wissen um den historischen Kontext aufgewiesen. So wurde aus Richard Riemerschmid irrtümlicherweise „Wunderschmidt“, aus Peter Behrens „Dehlersu“. Hier hat Neumeyer aufgeräumt. In einem einleitenden Essay ordnet er zudem den Stellenwert der persönlichen Erinnerungen für die Mies-Forschung gerade im Hinblick auf das Frühwerk ein und weist auf bemerkenswerte Passagen hin, unter anderem zu Mies’ Bewunderung für Alfred Messel, die vielen weniger bekannt sein dürfte als jene für Schinkel.

Mies berichtet seinem Enkel detailgenau über die frühe Prägung als ganz junger Mann („noch nicht 15, kann man sagen“) auf dem Bau und später als Zeichner in einem Stukkateurgeschäft. Geradezu wundersam scheint ihm selbst im Rückblick der Weg zu seinem ersten großen Auftrag als Architekt, dem Haus Riehl in Potsdam-Babelsberg. Frau Riehl, die Bauherrin, sei zu Bruno Paul an die Kunstgewerbeschule gekommen, zunächst nur um unter den Studierenden einen Gestalter für einen Vogelbrunnen zu finden, „diese flachen Schalen“, wie sich Mies erinnert. Um diese habe er sich nicht gekümmert – aber als Frau Riehl bei ihrem nächsten Besuch einen jungen Architekten für ihr Haus suchte („die waren so idealistisch“), da brachte er sich energisch ins Spiel, lieh sich das Geld für einen Gehrock zusammen und überzeugte Herrn Riehl, einen angesehenen Philosophen seiner Zeit, bei einer Abendeinladung von seinen Qualitäten. Und so betraute ihn das Ehepaar mit dem Entwurf des Hauses, obwohl Mies damals gerade mal 22 war und keinerlei Erfahrung als selbständiger Architekt vorweisen konnte.

Der als wortkarg bekannte Mies spricht nicht ausschweifend und kaum elaboriert. Häufiger verwendet er Zusätze wie „glaube ich“ oder „weiß nicht mehr genau“, die Wiedergabe seiner Erinnerungen erfolgt eher suchend und tastend, als dass er druckreife Statements äußern würde. Aber er öffnet sich im Gespräch mit Lohan, wird persönlich, gibt sogar Animositäten zu erkennen, was sonst nicht seine Art war. In nur einem kurzen Satz bekommen Philip Johnson und Walter Gropius gemeinsam eine spöttische Breitseite, auch Richard Neutra kommt nicht gut weg.

Mies’ ruhiger und abgeklärter Blick zurück, seine unprätentiöse, stellenweise entwaffnend ehrliche Erzählweise machen Lust auf mehr, insbesondere auf tiefere Einblicke hinter die Bauhaus-Kulissen. Sollte es sich bei den transkribierten Gesprächen tatsächlich nur um ein Fragment der „Lohan-Tapes“ handeln, wünscht man sich, dass längst ein engagierter Suchtrupp dabei ist, das MoMA auf den Kopf zu stellen und die restlichen Bänder zu finden.

Text: Katrin Voermanek

Originalton: Ludwig Mies van der Rohe
Die Lohan-Tapes von 1969

Herausgegeben und kommentiert von Fritz Neumeyer
120 Seiten
DOM Publishers, Berlin 2020
ISBN
978-3-86922-103-8
28 Euro


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Ludwig Mies van der Rohe, Haus Riehl, Potsdam-Neubabelsberg, 1908–1909, Gartenansicht

Ludwig Mies van der Rohe, Haus Riehl, Potsdam-Neubabelsberg, 1908–1909, Gartenansicht

Ludwig Mies van der Rohe, Haus Werner, Berlin-Zehlendorf, 1913

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Ludwig Mies van der Rohe, Neue Nationalgalerie, Berlin, 1963–1968

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