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13.07.2007

Verlorene Avantgarde. Russische Revolutionsarchitektur 1922-1932.

Bücher im BauNetz


Juni 1990. Uni-Exkursion zu den Bauten der Konstruktivisten in Moskau und Leningrad. Die UdSSR existiert noch, und die Russen schlagen sich gerade mit Gorbatschows halbherziger Prohibitionspolitik herum: Wodka gibt es nur unter dem Tresen gegen Dollar, Bier wird an der Hotelbar nur im Drei-Stunden-Rhythmus ausgeschenkt. In den Läden gibt es außer Hackfleisch und Hühnern kaum etwas zu kaufen.

Aber dafür: Staunenswerte Weltarchitektur, die man bisher nur von den immer gleichen, unscharfen Bildchen kannte, steht auf einmal live und in Farbe vor uns. Alles noch in Benutzung, aber das Meiste in beklagenswertem Zustand. Baulich, und erst recht hygienisch: Im Sujew-Club von Golossow (der die Zylinder-Kuben-Ecklösung von Terragnis Novocomum vorwegnimmt) sind Böden und Wände der Toiletten zentimeterdick mit getrockneten Exkrementen überzogen.

Im Studentenwohnheim von Nikolajew, jenem hyperradikalen, fast gewalttätigen Manifest der baukörperlichen Funktionstrennung, quellen die Müllschlucker über. Überall Ratten, Gestank, Verwesung. Das weltberühmte Kommunewohnhaus Narkomfin von Ginsburg, von dem Le Corbusier später die Organisation der Maisonette-Wohnungen für seine Unités d’habitation übernahm, ist fast leer gezogen und ruinös. Ein Wasserschaden in der Giebelfassade,
der durch die simple Reparatur eines Fallrohres hätte gestoppt werden können, symbolisiert, woran es hier mangelt: An auch nur noch so geringem Interesse an Erhalt und Fortbestand dieser architektonischen Schätze, die zu den bedeutendsten Schöpfungen der Moderne weltweit zählen.


Daran hat sich seit dem Ende der Sowjetunion nichts geändert, im Gegenteil. Während neostalinistische Retro-Architektur heute hoch im Kurs steht, werden die Bauten der Konstruktivisten mit dem verhassten Sowjetsystem in Verbindung gebracht und verfallen weiter. Grundstücksspekulanten sind scharf auf Melnikows eigenes kleines Haus, das zudem durch den unmittelbar benachbarten Bau eines Einkaufszentrums statisch gefährdet ist. Kein Gebäude aus dieser Zeit ist „sicher“. Das berühmte Prawda-Gebäude von Golossow ist inzwischen abgebrannt, das Mostorg-Kaufhaus der Brüder Wesnin dagegen durch Benetton äußerlich wieder nahe an den Ursprungszustand versetzt worden.Die internationale Gemeinschaft war in den letzten anderthalb Jahrzehnten nicht untätig, um dieses Welterbe zu retten. Eine internationale Konferenz 2006 in Moskau konnte auch die örtliche Politik nicht ganz ignorieren. Inzwischen gelten Konstruktivisten-Bauten bei einigen Investoren sogar als „chic“.

Der vorliegende üppige Bildband ist sozusagen Bibel und Tagungsgrundlage für alle, die sich dem Erbe des Konstruktivismus in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion (und nicht nur in Moskau und St. Petersburg!) interessieren. Er ist Anschauungsmaterial und Schadenskataster zugleich. Die Aufnahmen sind zwischen 1993 und 2000 entstanden und zeigen nicht mehr unbedingt den aktuellen Zustand.


Es handelt sich hierbei um gut fotografierte Architektur-Reportagen, die auf jahrelangen Reisen und unter widrigen Umständen vor Ort entstanden – jedenfalls nicht um ortslose Foto-Kunst wie beim Werk der Bechers. Insofern geht das Gemäkel einiger Rezensenten über das eine oder andere unscharf wieder gegebene Foto am Thema vorbei. Dem Verlag sei vielmehr für das Wagnis gedankt, diesen architektonischen Fotoschatz für den deutschen Sprachraum gehoben zu haben. (Benedikt Hotze)


Zum Thema:

Verlorene Avantgarde. Russische
Revolutionsarchitektur 1922-1932.
Von Richard Pare.
347 Seiten, 375 Farbtafeln.
Schirmer/Mosel, München, 2007,
78 Euro. ISBN-10: 3829602995


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