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24.01.2024

Buchtipp: Winfried Nerdinger

Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert


Nachdem Wolfgang Pehnt als leitender Redakteur beim Kölner Deutschlandfunk in den Ruhestand gegangen war, fragten ihn Freunde, ob es jetzt nicht an der Zeit sei, eine Architekturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert zu schreiben. Tatsächlich machte sich der im Oktober letzten Jahres verstorbene Pehnt an dem Desiderat zu schaffen und legte 2005 das ersehnte Standardwerk Deutsche Architektur seit 1900 vor. Allerdings hatte der Kölner Journalist auch Freunde, die dem Werk nicht nur wohlgesonnen waren. Zu ihnen gehörte Winfried Nerdinger, der wenig später in der Zeit eine Rezension veröffentlichte, die man mit Fug und Recht als Verriss bezeichnen darf.

Nerdingers Besprechung trägt den Titel „Amüsante Häppchenkultur. Wolfgang Pehnt plaudert über die deutsche Architekturgeschichte“. Damit ist der Tenor der Kritik gesetzt. Nerdinger war damals Professor für Geschichte der Architektur und Baukonstruktion an der TU München. Dabei liegt es nicht nur an der professoralen Geste, dass er dem renommierten Architekturkritiker vorwirft, bei ihm fehlten „Begriffe und Strukturen, das Bauen werde nicht aus seinen Zusammenhängen erfasst, sondern nur entlang von Einzelwerken additiv geschildert.“ Das, was für gutes journalistisches Handwerk steht, war für Nerdinger dem Thema nicht angemessen. Tatsächlich bemängelte der Architekturhistoriker zu Recht, dass ökonomische Aspekte des Bauens wie Rationalisierung, Materialeinsparung und Typisierung in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ausgespart und Fragen der Konstruktion und Bautechnik nur beiläufig erörtert wurden.

Man kann sich bestens vorstellen, dass sich Nerdinger in den folgenden Jahren an den Schreibtisch setzte, um der Fachwelt zu zeigen, wie eine moderne deutsche Architekturgeschichte aussehen muss. Das Ergebnis Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Geschichte, Gesellschaft, Funktionen ist im Oktober letzten Jahres im Verlag C.H.Beck erschienen. Tatsächlich hat die Zeit-Kritik die Maßstäbe für ein umfangreiches Buch gesetzt, das mit einem einschüchternden wissenschaftlichen Apparat von 180 Seiten daherkommt – aber ohne den eigentlich pflichtschuldigen Hinweis auf Wolfgang Pehnts Deutsche Architektur seit 1900.

Um es kurz zu machen: Mit seiner Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert ist Nerdinger seinen eigenen Maßstäben immerhin gerecht geworden und hat ein Werk vorgelegt, das die unterschiedlichsten Aspekte des Bauschaffens berücksichtigt.

Die Komplexität des Bauschaffens wird bereits auf den ersten Seiten deutlich, wenn Nerdinger beispielsweise beschreibt, dass das seit 1794 bestehende Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten das nahezu unbegrenzte Recht an Eigentum betont. Oder wenn man liest, dass sich wenige Jahrzehnte später die sozialen Missstände in den Industriestädten an einer Architektur festmachten, die „nach maximalem Profit ausgerichtet“ ist. Gemeint sind etwa die Berliner Mietskasernen, über die Walter Benjamin schrieb, in diese Häuser seien aus Spekulationsgründen „bis zu 650 Menschen hineingestopft“ worden. Das sei möglich, so Benjamin, weil ihre Bauweise dem Prinzip einer aus wirtschaftlichem Kalkül entsprungenen Stapelung von möglichst vielen Wohnungen unter einem Dach gehorche.

Nerdingers Architekturgeschichte wird der selbstgesetzten Perspektiverweiterung gerecht, wenn es über die entfesselte Technikentwicklung seit dem Ersten Weltkrieg heißt, das Militärische sei zum „Motor für die Rationalisierung des Bauens“ geworden. Ende 1938 konnte Fritz Todt berichten, dass 50 Prozent des gesamten Bauvolumens in die Wehrmacht fließe.

Gegen Ende des Buches geht Nerdinger auch auf aktuelle Tendenzen in der Ar-chitektur ein, beispielsweise auf das Erbe der oft unterschätzten IBA Emscher Park (1989–99). Er kommentiert das wegweisende Programm „Wandel ohne Wachstum“, mit dem der geschäftsführende Direktor Karl Ganser auf den Forschungsbericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums von 1972 reagierte. Statt „Abbruch, Neubau und Ankurbelung der Spirale von Wachstum und Gewinnmaximierung“ habe Ganser auf Umbau und Umnutzung gesetzt. Die IBA Emscher Park, resümiert Nerdinger, gelangte auf diesem Weg zur „Schonung der Ressourcen sowie zu Erhaltung und nachhaltiger Nutzung des Bestands.“ Es sind Themen, die aktuell wichtiger als je zuvor sind.

Text: Klaus Englert


Architektur in Deutschland im 20. Jahrhundert. Geschichte, Gesellschaft, Funktionen
Winfried Nerdinger
C.H.Beck Verlag, München 2023
816 Seiten
ISBN 978-3-406-80710-7

49,90 Euro
39,99 Euro (E-Book)


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