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11.02.2020

documenta urbana entstellt

Architekt*innen fordern Rückbau in Kassel


Groß war der Aufschrei, als 2010 der Berliner IBA-Turm von John Hejduk kaputtsaniert werden sollte. Der Protest hatte Erfolg, der originale Zustand konnte erhalten werden. Jetzt gibt es mit der documenta urbana in Kassel einen weiteren drastischen Fall aus der gleichen Epoche. An dem kollektiven Wohnexperiment sind ohne Beteiligung der Architekt*innen substanzielle Veränderungen vorgenommen worden. Insbesondere die Detailqualität der Architektur wurde teils vollständig zerstört. Betroffen sind unter anderem Bauabschnitte von Herman Hertzberger, Otto Steidle und Hinrich und Inken Baller.

Von Luise Rellensmann

2017 würdigte die Baunetzwoche#480 die 1982 fertiggestellte documenta urbana, ein Wohnungsbauprojekt in Kassel, das zu seiner Bauzeit bundesweite Aufmerksamkeit genoss. Bis heute kann es als richtungsweisend und vorbildhaft gelten – insbesondere auch im derzeitigen Diskurs zu neuen Wohnformen.

2019 zeigte die Ausstellung zur „Neuen Heimat“ in der Pinakothek der Moderne in München und im Museum für Hamburgische Geschichte in Hamburg ebenfalls die soziale Architektur des Kollektivprojekts namhafter Architekt*innen, die im Rahmen der 7. Documenta realisiert worden war. Unterdessen sind an der als „Wohnschlange“ bekannten, sich windenden Häuserzeile unbemerkt gravierende Umgestaltungen vorgenommen worden.

Das fiel erst im November 2019 auf, als zwei Berliner Architekturstudierende nach Kassel pilgerten, um sich den geschwungenen Geschosswohnungsbau mit Bauten unter anderem von Herman Hertzberger, den Baufröschen, Hilmer & Sattler, Roland Rainer, dem Planungskollektiv Nr.1, Hinrich und Inken Baller oder Otto Steidle anzuschauen. Die Enttäuschung war groß: Die eigentlich von vielfältigen Handschriften geprägte Wohnschlange zeigte sich verunstaltet, umgebaut und in ein vereinheitlichendes Beigegrau getaucht.

Platten verkleiden jetzt die markanten Betonsäulen des ehemals einfarbig hellen Steidlebaus, dessen Erdgeschosszone nun in dunklem Anthrazit gestrichen ist. Auf dem Dach wurden Wohnungen hinzugefügt, an der rückwärtigen Fassade kragen neue gläserne Balkone aus. Massive Brüstungen ersetzen Herman Hertzbergers Umwehrungen aus Betongittersteinen. Eigens für das Projekt entworfene Holzfenster wurden durch Fenster von der Stange ersetzt. Die vielleicht drastischsten Eingriffe, die weit über Materialiät und Ästhetik der Fassaden hinausgehen, erfolgten am Bauabschnitt der Hamburger Architekten Patschan, Werner, Winking, wo ein Dachaufbau zugunsten von zwei neuen Wohneinheiten entfernt wurde.

Geradezu höhnisch wirkt es, dass die neu entstandenen Wohnungen auf dem Immobilienmarkt als „Luxuswohnungen“ und „Teil des Gesamtkunstwerks Documenta Urbana“ erfolgreich verkauft wurden. „Wie kann eine Stadt, die sich mit dem Namen ‚documenta-‘ und ‚Baukultur‘- Stadt schmückt, solche Baumaßnahmen genehmigen?“, wunderte sich die Berliner Architektin Inken Baller. Sie war von den Studierenden benachrichtigt worden. Auch ihre Bauten sind nicht wiederzuerkennen: So weist die Fassade des von Inken und Hinrich Baller entworfenen Abschnitts eine völlige andere Struktur auf. Vormals vertikale Fenster sind quadratisch und die für Baller-Architektur typischen filigranen Metallgeländer ersetzte man durch hohe Glasgeländer mit dickleibigen Profilen.

„Keines der ursprünglich beteiligten Büros wurde über diese Eingriffe in irgendeiner Weise vom Bauherrn oder seinen Architekten informiert, obwohl ganz offensichtlich die Urheberrechte der vier Architektenbüros hochgradig verletzt wurden“, formulieren nun die ursprünglichen Urheber*innen in einem Offenen Brief. 2016 hatte der Immobilien-Unternehmer Philipp Heitmann die sanierungsbedürftige Anlage von der Wohnungsbaugesellschaft Hessen übernommen. 2017 berichtete die Lokalzeitung Hessische Niedersächsische Allgemeine über die Sanierungsbedürftigkeit der Wohnschlange. Sie machte auch die Denkmalschutzbehörden auf das Objekt aufmerksam. Mit gerade einmal 34 Jahren erschien das Ensemble der documenta urbana jedoch noch nicht als Prüffall für die Denkmalpflege.

Mit der „Sanierung“ des Ensembles ist ein wichtiges Zeugnis partizipativer und kooperativer Planung der späten Vorwende-Bundesrepublik gedankenlos oder mutwillig, in jedem Fall aber ohne Not zerstört worden. Die baulichen Maßnahmen erfolgten dabei offenbar auch noch ohne Baugenehmigung. Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch kündigte der Kasseler Stadtbaurat Christof Nolda an, den Fall juristisch zu prüfen. Die Architekt*innen von damals fordern in jedem Fall den Rückbau der entstellenden Veränderungen unter ihrer Beteiligung. Und es stellt sich die Frage: Wie kann so etwas passieren, ohne dass es jemand merkt?

Fotos 2017: Marc Timo Berg


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Bauteil von Patschan, Werner, Winking, Zustand 2017

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Nach dem Umbau ist das Gebäude 2020 nicht mehr wiederzuerkennen.

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Baller meets Hertzberger: Ein gemeinsames Treppenhaus bildet den Übergang zwischen den Häusern, die Details kommunizieren die Zusammenarbeit.

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Der gleiche Bauabschnitt nach der Umgestaltung.

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