Er konnte nur eine Handvoll Bauten realisieren, hat keinen deutschen Wikipedia-Eintrag und gilt doch als legendäre Schlüsselfigur der lateinamerikanischen Moderne: Amancio Williams. 1913 wurde er in Buenos Aires als Sohn eines berühmten Komponisten geboren. Seit den 1940er Jahren und bis zu seinem Tod 1989 entwarf Williams eine immense Zahl an Projekten, die nicht zuletzt deshalb wichtig sind, da sie großen Einfluss auf die argentinische Architektenschaft hatten und bis heute haben.
Die Relevanz dieses weitgehend spekulativen Werks, das immer wieder die Grenzen des Machbaren auslotete, zeigt sich auch daran, dass sein Nachlass 2020 an das Canadian Centre for Architecture CCA in Montreal ging. Für die argentinische Archivlandschaft ist das ein herber Verlust, doch das CCA hat direkt seine Verantwortung für den Bestand wahrgenommen und 2023/24 drei kleine Ausstellungen in der Serie „Out of the Box“ veranstaltet. Kuratiert wurden diese von vom Pariser Büro Studio Muoto, der argentinischen Architektin und Forscherin Claudia Shmidt und dem chilenischen Büro Pezo von Ellrichshausen.
Zur Ausstellungsserie ist im letzten Jahr bei Spector Books eine Publikation erschienen, die weit über das übliche Format eines Ausstellungskatalogs hinausgeht. AP 205 Amancio Williams: Readings of the Archive zelebriert nicht nur eine erlesene Auswahl von Williams’ Projekten, sondern auch das Archiv und die Auseinandersetzung mit ihm. Wer archivarische Forschung betrieben hat, weiß um den mitunter immensen Reichtum an Material, den man dort findet. Das von Our Polite Society aus Amsterdam gestaltete Buch gibt dem Archivmaterial sowohl in seiner Materialität als auch in seiner tabellarischen Ordnung den angemessenen Raum, ohne dass das Buchprojekt ausufert.
Pläne, Skizzen, Fotografien, Collagen, Fotomontagen, Zeitschriftenartikel und Briefe machen Williams’ Entwurfspraxis auf geradezu intime Weise greifbar. Man fliegt mit Williams über die Küste vor Buenos Aires, wo er in den 1940er Jahren einen Großflughafen in radikaler linearer Ordnung und komplett auf Stelzen im Meer errichten wollte. Man folgt ihm auf die Baustelle eines der ganz wenigen Häuser, das er realisieren konnte – bezeichnenderweise für den eigenen Vater und zusammen mit seiner Frau Delfina Gálvez de Williams: Die Casa sobre el arroyo aus dem Jahr 1945 ist letztlich eine Brücke über einen Bach – und machte Williams berühmt.
Nicht weniger als der Flughafen im Meer beeindruckt das monumentale Kreuz am Rio de la Plata, das der Architekt Anfang der 1960er Jahr erdachte und mit dem er sich 20 Jahre lang beschäftigte. Später meinte er, den perfekten, organisch-runden Konzertsaal gefunden zu haben. Briefe an das Who’s who der damaligen Architekturwelt und Politik belegen seine Anstrengungen, einen Prototyp für seine „true solution for sound and vision“ (so im Brief an Nelson Rockefeller 1969) realisieren zu können.
AP 205 Amancio Williams: Readings of the Archive birgt eine Fülle solcher Fundstücke (wobei es hilfreich ist, Französisch und Spanisch zu verstehen, um die faksimilierten Briefe lesen zu können), dazu minutiöse Auflistungen all seiner Briefe, anekdotische Fotografien, eine wissenschaftliche Übersicht der Archivbestände sowie eine Bibliografie. Der weiteren Beschäftigung mit Amancio Williams jenseits des lateinamerikanischen Raums steht nun nichts mehr im Wege.
Text: Gregor Harbusch
AP 205 Amancio Williams: Readings of the Archive
Studio Muoto, Claudia Shmidt, Pezo von Ellrichshausen
Gestaltung: Our Polite Society
272 Seiten
Englisch
Spector Books, Leipzig 2024
ISBN: 9783959057981
38 Euro
Das Buch ist auch auf Spanisch erschienen.