Crystal Talk
Text: Norman KietzmannFotos: Torsten Seidel

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Manuelle Gautrand
Manuelle Gautrand

Es rumpelt und zischt, manchmal klappert es und mittendrin erklingen Stimmen oder gar das Rauschen des Meeres. Wer die Internetseite von Manuelle Gautrand betritt, reibt sich zunächst verwundert die Augen. Statt in seriöser, fast schon trockener Manier, wie viele Architekten ihre Arbeiten im Netz präsentieren, empfängt die Besucher ein kurzweiliger, interaktiver Cartoon. Eingerahmt von einer verspielten, schwarzweißen Grafik werden die gezeigten Projekte zu einem kontinuierlichen Band verwoben, während eingespielte Klangfetzen einen automatisch zum Schmunzeln bringen. Wer ist diese Frau, die sich so locker souverän in Szene setzt und ihr Büro dabei in den letzten zehn Jahren ganz nach vorne in der französischen Architektur katapultiert hat?


Ein charmant zusammengewürfeltes Schild verrät in der Einfahrt am Boulevard de la Bastille die Unternehmen, die das einstige Fabrikgebäude aus der Jahrhundertwende bezogen haben. Es sind viele Architekten darunter, Grafiker, Pressebüros, zwei Modellagenturen sowie ganz hinten im Hof die Werkstatt von Hector Saxe. Die traditionsreiche Manufaktur produziert noch immer kostbare Backgammonspiele von Hand und zählt zu den drei letzten ihrer Art. „Viele unserer Nachbarn arbeiten auch am Abend. Das ist gut. So ist man nie allein und sieht woanders immer noch Licht“, erzählt Manuelle Gautrand, als sie uns durch ihr Büro führt.

Siebzehn Architekten arbeiten hier auf zwei hellen, lichtdurchfluteten Etagen, die zusammen rund 280 Quadratmeter bespielen. Eine weiteres Detail fällt gleich ins Auge, das sich deutlich von der Einrichtung anderer Architekturbüros unterscheidet: Anstelle der fast schon obligatorischen Tolomeo-Schreibtischlampen hängen dutzende japanische Papierleuchten von der Decke herab und geben dem Raum einen angenehmen, warmen Charakter. „In der Nacht sind wir immer leicht aufzufinden: Alle hier im Hof nennen uns das Atelier der Lampignons“, sagt Manuelle Gautrand und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Sie umgibt etwas mädchenhaft Freches, wenn sie Dinge wie diese sagt und dabei ihr ansteckendes Lächeln über beide Ohren wirft.

In der unteren Etage, gleich neben dem Eingang und dem Besprechungsraum, liegt eine große Werkstatt. „Wir arbeiten sehr intensiv mit Modellen, um möglichst unterschiedliche Szenarien durchzuspielen“, erklärt Manuelle Gautrand die Bedeutung dieses Raums. Während wir weitergehen, verschwinden immer wieder Mitarbeiter inmitten der gläsernen Box und kommen mit bunten Schaumstoffobjekten in ihren Händen wieder heraus. Es stimmt also, wie auch der Blick über die mit Modellen dicht gefüllten Tische verrät.


Es ist eine eindrucksvolle Karriere, die Manuelle Gautrand gelang und die gebürtige Pariserin, Jahrgang 1961, dennoch vor professioneller Abgebrühtheit oder gar Arroganz bewahrte. Gründe für ein stolzes Ego hätte sie gleich mehrfach: Ihr 2007 eröffneter Citroën-Showroom „C42“ ist der erste Neubau auf den Champs-Élysées seit 32 Jahren und der einzige aus der Feder einer Frau. Mit der 2010 eröffneten „Gaîté Lyrique“ verwandelte sie ein ramponiertes Operettentheater aus dem 19. Jahrhundert in ein vitales Zentrum für zeitgenössische Musik, das kaum weniger als den wichtigsten Kulturbau an der Seine seit zehn Jahren markiert. Und während viele Hochhausprojekte im Bankenviertel La Défence derzeit in der Schwebe liegen oder der von Jean Nouvel entworfene „Tour Signal“ sogar ganz dem Rotstift zum Opfer fiel, wird ihr Entwurf des 140 Meter hohen „Tour AVA“ im kommenden Jahr gebaut. Kein Wunder, dass die umtriebige Französin bereits 2010 in den Stand der Ritter der Ehrenlegion aufgenommen wurde.


Manuelle Gautrand weiß, was sie will. Sie weiß aber auch, was sie nicht will. Die Namen der Büros, in denen sie vor der Gründung ihres eigenen Studios im Januar 1991 gearbeitet hatte, möchte sie partout nicht preisgeben. Und auch der Name der Universität, an der sie 1985 in Diplom absolvierte – die Ecole Nationale Supérieure d‘Architecture de Montpellier – war erst auf mehrfache Bitte zu erfahren. Das klingt fast seltsam, spricht sie doch erstaunlich offen über ihre Projekte und scheut auch nicht, ihre eigenen Zweifel zum Ausdruck zu bringen. „Das Studium war ein wenig frustrierend“, sagt Manuelle Gautrand, die ihre Inspiration in jenen einprägsamen Jahren vielmehr in den Ateliers der Bildhauerei als auf den Etagen der Architektur fand. Die Nähe zum plastischen Entwerfen ist ihr bis heute geblieben, wenngleich sie diese nun zielsicher innerhalb der Architektur auslebt.

Die Gebäude von Manuelle Gautrand sind dennoch keine aufgeplusterten Skulpturen, sondern Gebäude mit skulpturalen Qualitäten. Ob der Showroom von Citroën (2007) mit seiner raffiniert gefalteten Fassade, der Erweiterungsbau des Museums für Moderne Kunst in Lille (2010) mit seinen blätterartigen Fenstern oder der in leuchtendem Gelb akzentuierte Bürokomplex „Cité des Affaires“ in Saint-Etienne (2010): Die Fassade dient weit mehr als nur der klimatischen Schleuse zwischen Innen und Außen. Durch Faltungen, Rundungen und einen ausgeprägten Sinn fürs Relief wird die Fassade zum gezielten Mittel der Kommunikation: „Jedes Gebäude in einer Stadt ist ein Orientierungspunkt und sollte eine Rolle spielen“, ist Manuelle Gautrand überzeugt und zieht den Vergleich mit Figuren auf einem Schachbrett.


Welch erzählerische Qualitäten ein Gebäude entfalten kann, zeigt ihr Vorschlag für den Neubau des Munch Museums in Oslo. „Munch ist ein Nationaldenkmal Norwegens. Mir gefiel die Vorstellung, eine Verbindung zwischen dem Land und seiner Malerei herzustellen. Das Gebäude ist daher eng an die Natur angelehnt und erinnert an die Fjorde, die Berge und die dunklen Farben des Meeres“, beschreibt Manuelle Gautrand ihren Entwurf. Dass ihre dunkle, mäandernde Landschaft, die ein selbstbewusstes Gegenüber zum Opernhaus von Snøhetta gebildet hätte, schließlich einem neutralen, fast schon austauschbaren Entwurf von Herreros Arquitectos aus Madrid unterlag, ärgert sie noch immer. Das ist sympathisch, weil man ihr die Leidenschaft beim Entwerfen anmerkt. Architektur entsteht bei ihr nicht aus dem Abarbeiten von Tabellen oder engstirniger Raster heraus, sondern aus einer präzisen Beobachtung des Ortes. Das macht es schwer, die für richtig gehaltene Lösung aufzugeben.

„Wettbewerbe sind schwierig, weil wir sehr viele von ihnen verlieren. Andererseits weiß man, wenn man einen Wettbewerb gewinnt, dass der Entwurf richtig war“, besteht Manuelle Gautrand. Dass sie im Sommer 2011 einen Direktauftrag für den Neubau des Konservatoriums für zeitgenössische Musik und Tanz im israelischen Ashkelon erhielt, sah sie dennoch als Herausforderung: „Natürlich fällt die Planung leichter, wenn man ein Projekt gestalten kann, wie man möchte und es keine Konkurrenz gibt. Doch im selben Moment ist man unsicher, ob der Vorschlag überhaupt gefällt und ob er richtig ist“, bringt Manuelle Gautrand ihren Zwiespalt auf den Punkt. Von Hektik ist fünf Tage vor der Präsentation kaum etwas zu spüren. Zahlreiche Modelle und Renderings überfluten zwei große Arbeitstische in der Mitte des Raums und lassen das Projekt in seinen Zügen erkennen. Die geäußerten Zweifel erwiese sich im Übrigen als unberechtigt: Der Entwurf mit seinen in sich verschachtelten Volumina und der von runden Fenstern durchlöcherten Fassade gefiel – und wird ab kommendem Jahr gebaut.



Wohin sie sonst die Reise führt? Zu den Projekten, an denen Manuelle Gautrand mit ihrem Team derzeit arbeitet, gehören die Erweiterung eines 60er-Jahre-Kaufhauses in Paris, der Umbau und sowie die Wiederbelebung zweier Kinos in Paris, ein Wohn- und Hotelgebäude in Montpellier, eine luxuriöse Villenanlage in der Karibik, eine Boutique von Louis Vuitton in Seoul sowie die Erweiterung eines Theaters im nordfranzösischen Béthune. Dass ihr vor allem letzteres Projekt am Herzen liegt, hat einen besonderen Grund: „Das Theater war einer der ersten Wettbewerbe, den ich 1994 gewonnen habe. Zehn Jahre nach der Eröffnung die neuen Proberäume bauen zu können, macht mich sehr, sehr zufrieden“, gesteht Manuelle Gautrand und lächelt wieder über beide Ohren. Das Licht im Atelier der Lampignons wird sicher noch eine Weile hell leuchten.