Crystal Talk
Text: Norman KietzmannFotos: Torsten Seidel

Interview

Manuelle Gautrand


Es ist warm an diesem Herbsttag in Paris. Im Port de l‘Arsenal, einem Hafenbecken südlich der Bastille, liegen die Boote der Freizeitkapitäne dicht aneinander. Eine Reihe Bäume trennt die Uferpromenade vom Boulevard de la Bastille, dessen Haus mit der Nummer 36 schon von Weitem ins Auge fällt. Statt graubeigem Sandstein oder schwarzen, gusseisernen Geländern, wie sie sonst das Pariser Stadtbild prägen, zeugt die Fassade mit ihren roten Ziegeln und den fein gegliederten Trägern aus Beton von einer industriellen Vergangenheit. An der Einfahrt der ehemaligen Fabrik herrscht ständiges Kommen-und-Gehen: Taxis fahren vor und werfen gut aussehende Menschen mit dicken Mappen aus. Angekommen in der dritten Etage, löst sich das Rätsel auf: Eine Modellagentur veranstaltet ein Casting für die bevorstehende Modewoche. Nach einer Kurve führt ein langer Gang immer tiefer in das Gebäude hinein, wo man uns die Tür öffnet. In einem hellen, gläsernen Raum, umringt von Büchern, Renderings und Modellen, beginnen wir schließlich unser Gespräch. Manuelle Gautrand über urbane Schachspiele, gläserne Origamis und gebaute Emotion.

Madame Gautrand, Wann wussten Sie, dass Sie Architektin werden wollen?

Manuelle Gautrand:
Mit Siebzehn. Ich wusste, dass ich einen künstlerischen Beruf ergreifen wollte, war mir aber lange nicht sicher welchen. Nach dem Abitur habe ich mich dann für Architektur entschieden. Ich kann also nicht sagen, dass ich mir schon mit drei Jahren vollkommen sicher war (lacht).


Welche Erinnerungen haben Sie an Ihr Studium?

Manuelle Gautrand:
Es war ein wenig frustrierend, weil ich glaube, dass ich an einer nicht ganz so guten Schule war. In Frankreich sind die Architekturschulen ohnehin nicht außergewöhnlich gut. Als ich mit meinem Studium fertig war, war ich recht unzufrieden mit dem, was ich gelernt hatte. Erst als ich zu arbeiten begann, habe ich meine professionellen Erfahrungen und einen wirklichen Umgang mit Kreativität erlernt. Das Studium hat mir von dieser Seite eher weniger gegeben.

Gab es dennoch einen Professor, der Sie beeinflusst hat?


Manuelle Gautrand:
Ja, das war der Professor der Bildhauerei. Wir haben in erster Linie eine Analyse zeitgenössischer Kunst gemacht, die ich auf diese Weise sehr gut kennengelernt habe. Von praktischer Seite kann ich mich allerdings kaum noch an die Projekte erinnern, an denen wir gearbeitet haben. Was mir an der Bildhauerei gefallen hat, war ein offener, frischer Blick, der mir bei meinen Architektur-Professoren gefehlt hatte. Ich glaube, dass auch heute meine Inspiration eher außerhalb der Architektur suche, seien es Landschaften, Städte oder teilweise die Mode.


Der Einfluss plastischer Gestaltung wird vor allem bei ihren Fassaden deutlich, die alles andere als in strengen Rastern daherkommen. Ihren Durchbruch haben Sie mit der Eröffnung des Showrooms „C42“ von Citroën auf den Pariser Champs-Élysées erlebt, dessen Fassade als gefaltetes Band nahtlos in das Dach übergeht. Wie kam es zu diesem Entwurf?

Manuelle Gautrand:
Ich muss gestehen, dass ich zunächst gar kein großer Autofan war. Also habe ich erst einmal versucht, in das Universum der Fahrzeuge einzutauchen und mir anzusehen, wie sie hergestellt und verkauft werden. Dabei fiel mir auf, dass vor allem die DS, das bislang schönste Auto von Citroën, an eine endlose Kurve erinnert. Der Showroom auf den Champs-Élysées funktioniert auf dieselbe Weise: Er ähnelt der Karosserie eines Autos und lässt die Fassade und das Dach ineinanderfließen, ohne dass ein Bruch entsteht.


Das erklärt allerdings noch nicht die Faltung...

Manuelle Gautrand:
Die Faltung ist sehr wichtig, weil sie vom Inhalt des Gebäudes erzählt. Das Logo von Citroën ist ein doppelter Zacken, den ich sehr schön finde. Indem die Fassade diese Form aufgreift, kann sie die Marke verkörpern, ohne Citroën schreiben zu müssen. In Japan gibt es ein Spiel, ein Gefühl oder einen Gegenstand mit einer Faltung auszudrücken. Dasselbe habe ich mit meinem Gebäude versucht: Es ist ein Origami aus Glas.


Großformatige Glasfassaden können oft abweisend oder gar banal wirken. Die Faltung erzeugt dagegen ein differenziertes Licht- und Schattenspiel. Welche Wirkung wollten Sie damit erreichen?

Manuelle Gautrand:
Eine gefaltete, gläserne Fassade erinnert an ein Kaleidoskop, das die umliegenden Gebäude oder den Himmel spiegelt. Die Wiedergabe ist jedoch nicht gleichmäßig wie bei einem normalen Spiegel, sondern aufgefächert in viele unterschiedliche Facetten. Dieser Aspekt war mir sehr wichtig: Ich wollte, dass das Gebäude nicht massiv erscheint und ein Stück von seiner Materialität verliert. Die runden Plattformen, auf denen die Fahrzeuge präsentiert werden, verfügen jeweils über eine gefaltete und verspiegelte Unterseite. Wenn man die Treppe hinaufsteigt, spiegeln sich die Farben der Autos, während ihre Form fast vollständig verfremdet wird. Das macht den Parcours durch das Gebäude viel spannender, weil nicht alles auf den ersten Blick zu erkennen ist. Die Spiegel interpretieren auf diese Weise nicht nur die Fahrzeuge. Sie funktionieren ein wenig wie die Discokugeln in einem Nachtclub und werfen das Licht diffus durch den Raum.


Also wollen Sie mit dem öffentlichen Raum kommunizieren?

Manuelle Gautrand:
Ja, denn die meisten meiner Gebäude befinden sich in Städten. Darum möchte ich sie zur Straße öffnen und nicht autistisch machen. Jedes Gebäude in einer Stadt ist ein Orientierungspunkt und sollte eine Rolle spielen. So wie eine Figur in einem Schachspiel. Ein Gebäude mit seiner Umgebung in Verbindung zu setzen, muss nicht automatisch bedeuten, die Fassade transparent zu machen. Auch ein Spiel mit Volumen oder Farben kann die Funktion verständlich machen. Es ist wichtig, dass die Architektur ein wenig ausschwitzt, was im Inneren passiert.


Wie gehen Sie an ein Projekt heran?

Manuelle Gautrand:
Natürlich denke ich zunächst einmal über den Kontext und das geforderte Programm nach. Das ist normal. Aber ich versuche im selben Moment auch über die Materialien, die Farben und die Atmosphäre nachzudenken. Wie ist ein Gebäude zum Licht ausgerichtet? Soll es luftdurchlässig sein oder nicht, transparent oder opak? Diese Punkte sind für mich ebenso tief in der Architektur verwurzelt wie die Funktion eines Gebäudes oder seine Verbindung zum Grundstück. Es ist wichtig, dass ein Museum nicht wie ein Bürogebäude aussieht.


Erzählen Sie von der Arbeit in Ihrem Studio. Wie verläuft der Entwurfsprozess?

Manuelle Gautrand:
Wir arbeiten sehr intensiv mit Modellen – und das gleich von Anfang an. Ich versuche bei jedem Projekt, möglich unterschiedliche Szenarien durchzuspielen. Denn jede dieser Lösungen trägt etwas zum finalen Ergebnis bei. Ich verbringe viel Zeit damit, die einzelnen Ideen zu analysieren und die richtige auszuwählen. Wenn ein erstes Volumen steht, ist der Weg allerdings noch immer sehr weit (lacht). Auch versuche ich, bei jedem Projekt auch ein wenig erfinderisch zu sein, sei es in Bezug auf die Funktion eines Gebäudes, seinen Kontext oder die Materialien. Meine Arbeit ist kein linearer Prozess. Am Anfang geht es oft sehr schnell voran. Doch dann gibt es immer einen Punkt, an dem es stockt und wir für ein, zwei oder drei Wochen zu kämpfen beginnen. Auch das gehört dazu. In diesen Momenten ist es wichtig, viel miteinander zu reden, um eine schlüssige Erklärung für einen Vorschlag zu finden. Sprache ist ein wichtiges Werkzeug beim Entwerfen.

Ihr Spektrum ist weit gefächert: Sie entwerfen Kulturbauten wie Theater und Museen, planen ebenso Bürogebäude, Wohnbauten oder Brücken. Ein Thema, dem sie sich in den letzten Jahren verstärkt gewidmet haben, sind Hochhäuser. Was treibt Sie hinauf in luftige Höhen?


Manuelle Gautrand:
Ein Turm ist natürlich für jeden Architekten eine Heldentat, die es zu erfüllen gibt. Da bin ich keine Ausnahme (lacht). Mein Interesse entstand aber auch aus einer gewissen Kritik. Denn obwohl es immer mehr Türme auf der Welt gibt, sind nur die allerwenigsten von ihnen interessant. Die meisten Hochhäuser ragen recht spröde und brutal in den Himmel empor, ohne mit dem Boden verbunden zu sein. Dabei ist das Erste, das man von einem Turm von Nahem sieht, sein Sockel. Ich denke, dass es an dieser Stelle einen menschlichen, fast schon intimen Maßstab braucht. Umgekehrt fällt von Weitem vor allem die Spitze ins Auge und weniger der Körper des Turms. Darum ist es wichtig, diese Zonen nicht zu ignorieren. Ein Hochhaus bildet immer drei Sequenzen.


Auch wenn Sie in den Wettbewerben um den „Tour Phare“ (2006) sowie den „Tour Signal“ (2008) unterlagen, konnten Sie dennoch 2008 ein Großprojekt im Pariser Hochhausviertel La Défence für sich entscheiden: der Bau des 140 Meter hohen „Tour AVA“. Womit konnte Ihr Entwurf die anderen ausstechen?

Manuelle Gautrand:
Das Projekt war zunächst nicht einfach, weil das Grundstück von einer Stadtautobahn durchschnitten wird. Am Anfang stand uns lediglich das Grundstück auf der nordwestlichen Straßenseite zur Verfügung. Also habe ich vorgeschlagen, das Gebäude zu vergrößern und unter dem Viadukt hindurch zu schieben. Der Bauherr hat diesen Vorschlag sehr gemocht, weil der Eingang des Gebäudes auf diese Weise zum Zentrum von La Défence verschoben wird und die Straße ihre visuelle Präsenz verliert. Auch wenn der Turm künftig 140 Meter in die Höhe ragt, ist das Gebäude mit einem 200 Meter langen Sockel eher horizontal ausgerichtet.



Das Motiv der Faltung haben Sie ebenso für die Gestaltung des Sockels aufgegriffen.

Manuelle Gautrand:
Ja, der Eingang schiebt sich unter der Autobahn wie eine große Markise hervor und bildet einen kleinen Vorplatz. Dieser bietet nicht nur Schutz vor Regen, sondern wird an der Unterseite mit einem riesigen Bildschirm aus LEDs bespielt. Auf dieser animierten Decke, die Tag und Nacht beleuchtet sein wird, werden künftig Kurzfilme oder digitale Kunst zu sehen sein. Ich arbeite häufig an kulturellen Projekten wie Theatern oder Konzertsälen. Die Nähe zu diesem Universum gibt mir auch Ideen für andere Projekten, die zunächst keine direkte Verbindung mit Kultur zu tun haben. Ich versuche nicht, die Architektur zu theatralisieren. Aber ich möchte, dass die Menschen etwas in ihr erleben.

Also wird die Architektur zum Medium?

Manuelle Gautrand:
Absolut. Ich möchte nicht, dass meine Gebäude neutral sind, selbst dann nicht, wenn es sich um Orte zum Arbeiten handelt. Architektur soll Emotionen wecken. Nur weil wir in Gebäuden leben, arbeiten oder uns ein Theaterstück anschauen, bedeutet dies nicht, dass sie keine Erfahrung bieten dürfen. Es ist wichtig, dass die Architektur mit einer bewussten Szenografie belebt wird.


Ihr bislang wichtigstes Projekt ist der Umbau der „Gaîté Lyrique“ in Paris. Das Operettentheater aus den 1870er Jahren haben Sie in ein Zentrum für zeitgenössische Musik verwandelt, das im Dezember 2010 eröffnet wurde. Trotz ihres Plädoyers für eine emotionale Architektur zeigen die Räume für Konzerte, Filmvorführungen und Performances einen fast neutralen Charakter. Warum?

Manuelle Gautrand:
Es ist wichtig, eine starke, eigenständige Architektur zu schaffen, ohne dabei zu weit zu gehen. Die „Gaîté Lyrique“ ist an einigen Stellen sehr expressiv wie bei den mobilen Elementen, die gleichzeitig der Beleuchtung dienen. Die Technik ist sehr ausgefeilt, sodass man alles in diesen Räumen machen kann, was man möchte. Aber gleichzeitig bleibt das Gebäude mit seinen grauen Böden, den weißen Wänden und den schwarzen Veranstaltungsräumen im Hintergrund. Bei kulturellen Projekten ist es entscheidend, die Staffel an andere Künstler weiterzureichen. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, sich in den Räumen auszudrücken und nicht von einer allzu expressiven Architektur beengt zu werden.

Vielen Dank für das Gespräch.


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Interview: Norman Kietzmann
Norman Kietzmann studierte Industriedesign in Berlin und Paris und schreibt als freiberuflicher Journalist über Architektur und Design für BauNetz, Designlines, Pure, Deutsch und andere. Er lebt und arbeitet in Mailand.

Projektleitung: Ines Bahr