Crystal Talk
Text: Florian HeilmeyerFotos: Torsten Seidel, Bas Princen, Office KGDVS

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OFFICE KGDVS
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Von den Belgiern wird gerne gesagt, sie seien die besten Europäer. Denn kein anderes Land auf unserem Kontinent vereint auf so kleiner Fläche so unterschiedliche Gemeinschaften. Die gemeinsame belgische Kultur gründet offensichtlich auf der permanenten Diskussion über Kultur, Sprache und politische Ansichten – wie eine kleine Version des europäischen Staatenbundes also.

Insofern liegt das Büro von Kersten Geers und David Van Severen im Herzen Europas, knapp zehn Fußminuten vom Brüsseler Hauptbahnhof und nur einen Katzensprung von „Manneken Pis“ entfernt, am Rande der historischen Altstadt. Seit 2006 haben sie hier in einem – nun ja – pragmatischen Bürogebäude mit dem vielleicht kleinsten Fahrstuhl der Welt eine Etage gemietet. Das Gebäude ist sicher keine Schönheit, neben einer Subways-Filiale führt der Weg durch einen engen Windfang mit braun getönten Fensterscheiben. Aber die Etagen schieben sich etwas in die Straßenflucht, was sich bei der Aussicht im fünften Stock schon bezahlt macht. Hier öffnet sich der Ausblick über die engen Sträßlein hinweg auf die komplexen Widersprüche der Brüsseler Skyline, wo sich die gewundenen Kirchturmspitzen, die schiefen Schornsteine und die braunroten Dächer in den Fassaden jener Hochhäuser spiegeln, die überall dazwischen aufragen. Und auf den Hügeln dahinter wird der Horizont von den gewaltigen Büro-Monolithen der riesigen Europa-Maschine verstellt.

„Es war keine bewusste Entscheidung, unser Büro in Brüssel zu haben“, sagt Geers fast entschuldigend. David Van Severen wurde 1978 in Ghent geboren, Kersten Geers 1975. Beide haben dort auch ihr Studium begonnen, kennen gelernt haben sie sich aber erst auf einer Studienexkursion nach Los Angeles. Auf den Streifzügen durch die Stadt merken sie, dass sie sich in Kunst und Architektur für dieselben Referenzen interessieren. Der durchaus ungewöhnliche Bogen ihrer Interessen spannt sich von der Renaissance über die frühe Moderne bis heute: Adolf Loos, Aldo Rossi, Rem Koolhaas („der frühe Rem Koolhaas“, wie Geers betont), Reyner Banham und O.M. Ungers zur Pop Art, Minimal Art und Conceptual Art eines David Hockney oder Ed Ruscha. Vieles davon ist mit Los Angeles verknüpft und vieles ist für zwei junge, belgische Architekten nicht unbedingt typisch. „Ich erinnere mich“, erzählt Geers, „dass ich in einem Antiquariat in Los Angeles dieses Buch von Reyner Banham fand, ‚The Architecture of Four Ecologies“. Und zwar die erste Ausgabe, die noch das Hockney-Bild ‚A Bigger Splash‘ auf dem Cover hat. Es ist so traurig, dass die späteren Auflagen einen anderen Umschlag bekamen, denn gerade in diesem Bild wird eigentlich der ganze Inhalt des Buchs zusammengefasst: all der Hedonismus, das Selbstbewusstsein und die Ernsthaftigkeit von Los Angeles. Ich habe sofort zwei gekauft, weil ich wusste, dass David auch eines haben will.“




Über die Jahre wird aus der Freundschaft ein gemeinsames Büro, allerdings ohne großen Plan. Nach der Rückkehr aus Los Angeles macht Geers seinen Abschluss und geht nach Rotterdam, arbeitet dort erst bei Maxwan und dann vier Jahre lang bei Neutelings Riedijk. Eine Zeit, von der er heute sagt, dass er dort Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt hat. „Dort konnte ich als sehr junger Architekt große Projekte leiten. Das wäre in Belgien so nicht gegangen.“ Van Severen geht erst noch ein Jahr nach Madrid, studiert dort bei Inaki Abalos und Juan Herreros – ein Tipp, den ihm Geers in Los Angeles gegeben hatte. „Ich hatte David von meinem eigenen Studienjahr bei Abalos und Herreros erzählt und war wohl so begeistert, dass er auch nach Madrid gegangen ist. Abalos und Herreros sind für uns beide bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Die beiden haben immer zusammen unterrichtet, sehr lebhaft, es wurde viel diskutiert, es wurden viele Referenzen gezeigt und die beiden sind sich dauernd gegenseitig ins Wort gefallen. (lacht) Ihre Lehre und ihre Arbeit als Architekten waren untrennbar verknüpft, eines setzte das andere fort. So kann man recht experimentell arbeiten und muss nicht immer alles sofort an der Realität messen. Aber wir teilen auch ähnliche Ansichten, einen sehr rationalen Umgang mit Strukturen und Konstruktionen: leicht, unauffällig, reduziert. Aber auch immer mit einem gewissen Maß an Emotionalität und Irrationalität. Abalos und Herreros haben gesagt, Intention sei für den Architekten wichtiger als Innovation. Das denke ich auch. Als Architekt musst du nichts erfinden. Es ist ja alles schon da. Architektur muss nicht extravagant und aufregend sein, sie kann sogar sehr langweilig sein.“

Office begann mit einem Tisch
David Van Severen bleibt nach seinem Abschluss in Belgien, arbeitet für Stéphane Beel, Xaveer de Geyter und bis 2005 im Büro seines Vaters, des bekannten Designers Marten van Severen. Dort entsteht auch die Idee eines gemeinsamen Büros mit Geers, und das beginnt mit einem Tisch.

„Soweit ich mich erinnere hat David 2002 im Büro seines Vaters den Auftrag bekommen, einen Tisch für eine Anwaltskanzlei zu entwerfen. Wir telefonierten und er fragte, ob ich Lust hätte, den Tisch mit ihm zusammen zu machen. Ich dachte, naja, warum nicht. (lacht) Aber dann überzeugten wir die Anwälte, dass ein Tisch nicht genug sei um aus ihrem scheußlichen Büro ein angenehmes zu machen.“ So gründeten sie ihr Büro mit dem pragmatischen Namen „OFFICE Kersten Geers David Van Severen“ – oder kurz: „Office“ – und entwarfen für das Budget eines Tisches eine kleine Anwaltskanzlei mit Spiegeln und Lichtern.



Ihr erstes gemeinsames Projekt zeigte schon eine Architektur-Philosophie, die Office bis heute auszeichnet: Sie nennen sie die „Ökonomie der Mittel“. Das bedeutet einerseits, das vorhandene Budget als absolute Grundlage für den Entwurf zu nehmen. Andererseits aber auch, ein reduziertes Vokabular von Formen und Materialien zu verwenden. Bei jedem Projekt von Office ist es erneut faszinierend, wie aus diesem reduzierten Vokabular eine tiefe, mehrdeutige räumliche Komplexität entsteht. So gelingt es ihnen, eine Architektur der reinen, puren Moderne zu entwickeln, die aber so widersprüchliche Einflüsse wie die Pop Art und die italienische Hochrenaissance nicht verbergen kann – nicht nur in den eigentümlich sperrigen Collagen, die Office statt der so weit verbreiteten 3D-Renderings zur Illustration ihrer Konzepte verwendet.

Bemerkenswerterweise sind die Gebäude von Office ebenso wie ihre Collagen und Zeichnungen gleichermaßen radikal, minimal und vieldeutig. Die Formen und Raumkonstellationen öffnen sich plötzlich zu einer Tiefe von komplexen Querverweisen und Interpretationsmöglichkeiten, die sich oft erst beim zweiten, dritten oder vierten Blick erschließt. Vielleicht ist auch das etwas Belgisches: der entspannte, beinahe selbstverständliche Umgang mit hochkomplexen Fragestellungen.

Vielleicht muss Architektur das Mehrdeutige und Widersprüchliche nicht abschließend ordnen. Vielleicht entsteht aus den offen gelassenen Fragen eine viel höhere Qualität.


Ihre Projekte haben sie von Anfang an trocken durchnummeriert. Mittlerweile steht die Zählung schon bei 105. Office ist derzeit schwer beschäftigt. Nachdem sie 2008 den belgischen Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig gestaltet hatten, waren sie in Belgien bekannt geworden. 2010 wurden sie dann von Kazuyo Sejima zur Hauptausstellung eingeladen und gewannen prompt für ihren „Garden Pavillon“ (den sie zusammen mit dem niederländischen Fotografen Bas Princen gestaltet hatten) den „Silbernen Löwen für das vielversprechendste junge Büro“. Mit diesen Ausstellungsbeiträgen, aber vor allem auch mit ihren hervorragenden, ruhigen Gebäuden, die bis in die Details durchgestaltet werden, haben sich Geers und van Severen trotz ihrer jungen Jahre bereits ein exzellentes Renommee erarbeitet.

Im Interview erzählt Kersten Geers davon, warum Intention wichtiger ist als Innovation, warum es wichtig ist, zu wissen, woran man kein Interesse hat, und wie man als Belgier alle diese Widersprüchlichkeiten unter einen Hut bringt: Wie Architektur präzise und zweideutig zugleich sein kann und wie man sich für die Renaissance und für Los Angeles begeistern kann.