Crystal Talk
Text: Friederike MeyerFotos: Allard van der Hoek, Ulrich Schwarz, Bastiaan IngenHousz

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Atelier Kempe Thill

Wenn André Kempe und Oliver Thill über ihre Arbeit sprechen, sprudeln die Worte einfach so in den Raum. Kein langes Überlegen scheint ihre Wirkung berechnen zu wollen. „Warum auch“, ist eine Floskel, die sie immer wieder mit leicht trotzigem Unterton einstreuen. Unter ihren Mitarbeitern – Deutsche, Niederländer und Praktikanten aus aller Welt – mit denen sie zusammen an einem langen Arbeitstisch in der Van Nelle Fabrik sitzen, stechen sie nicht hervor. Sie bedienen immer noch selbst die Styrocut, bauen Modelle oder rendern für die nächste Präsentation. Ihre Freude am Selbermachen wurde früh geweckt. Sie kommen aus Sachsen, man hört es deutlich. André Kempe wurde 1968 in Freiberg geboren, Oliver Thill 1971 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Getroffen haben sie sich beim Studium an der Technischen Universität in Dresden. Seitdem verläuft ihre Karriere parallel. Nach sechs gemeinsamen Studienjahren und Aufenthalten in Paris, Tokio und Wien ziehen sie in die Niederlande, wo sie seit 14 Jahren leben und arbeiten.

Zu Beginn sammeln sie Erfahrungen im Wohnungsbau, arbeiten bei Frits van Dongen, DKV und Karelse van der Meer. Mit einem Entwurf für 300 Wohneinheiten auf Kop van Zuid in Rotterdam gewinnen sie 1999 einen 1. Preis bei Europan 5 und gründen daraufhin das Atelier Kempe Thill. Kein besonders günstiger Zeitpunkt, sich auf eigene Beine zu stellen. Zwar genießt die niederländische Architektur noch immer den Ruf zu den aufregendsten in Europa zu gehören, doch eine Rezession lähmt die Wirtschaft und damit die Bedingungen für das Entstehen von Architektur im Land. Ihr Entwurf wird nicht gebaut, André Kempe und Oliver Thill wissen sich trotzdem durchzukämpfen.


Keine zwei Jahre später gewinnen sie den Wettbewerb „Wohnen im 21.Jahrhundert“ und erhalten mit ihrem gerade gegründeten Büro den Auftrag, in der Stadt Roosendaal Reihenhäuser zu bauen. Für die 17 zweigeschossigen Stadthäuser holen sie das Maximum aus dem geringen Budget heraus. Durch einen doppelt hohen Wohnraum versuchen sie Alternativen zum üblichen Einheitsgrundriss aufzuzeigen und erreichen, dass auch das Innere gut belichtet ist. „Nichts ist Standard, Kempe Thill betrachten alles als eine Herausforderung“, loben die Bauherren. In den Niederlanden, wo der Wohnungsbau in hohem Maße standardisiert ist und die Bauindustrie äußerst unflexibel auf Sonderlösungen reagiert, darf dies als großes Kompliment gelten. Tatsächlich haben Kempe Thill seitdem eine Reihe von Sonderlösungen vor allem für Glasschiebeelemente in der Fassade entwickelt, die sie bei jedem neuen Projekt weiter verfeinern. Einsparen, um an anderen Stellen außergewöhnliche Lösungen zu verwirklichen, mit diesem Credo gehen sie ans Werk.

Bereits im Jahr 2002 fassen sie ihre Erfahrungen in einem Manifest für den kollektiven Wohnungsbau zusammen. Unter dem Titel: „Spezifische Neutralität“ beschreiben sie den Wandel vom Sozialwohnungsbau hin zur konsumorientierten, individuellen Architektur und stellen fest: Wir wissen nicht mehr, für wen wir bauen. Deshalb müssten die Wohnungen flexibel sein, nicht nur während des Gebrauchs, sondern bereits in der Planung.

Wie sie sich die „private Landschaft für den zeitgemäßen Lebensstil“ vorstellen, kann man mittlerweile bei ihren Bauten in Amsterdam-Osdorp und in Zwolle sehen, die jeweils eine der beiden favorisierten Grundtypologien verkörpern: Mit tragenden Betonschotten und großzügiger Fassadenverglasung konstruieren sie die 23 Reihenhäuser in Osdorp und ermöglichen den Bewohnern so eine individuelle Grundrissgestaltung und maximale Belichtung der Räume. Bei dem 2009 fertig gestellten Wohnhaus im niederländischen Zwolle packen sie die 64 Studenten- und Sozialwohnungen in einen kompakten Achtspänner – für 869 Euro pro Quadratmeter. Die künftigen Mieter sollen die Vorzüge des Lofts genießen können: raumhohe Verglasung, ein großzügiger Eingangsbereich und ein reduziertes, aber edles Erscheinungsbild.




Der Wohnungsbau gehört heute zu den wichtigsten Betätigungsfeldern von Kempe Thill, doch auch mit öffentlichen Bauten haben sie bisher mehrfach auf sich aufmerksam gemacht. Im österreichischen Dorf Raiding bauen sie im Garten des Geburtshauses von Franz Liszt ein Konzerthaus mit einer Fassade aus Dämmplatten, die mit Polyurethan bespritzt ist und von 18 Meter langen Fenstern aus verschweißten Acrylglaselementen durchbrochen wird. Den Saal vertäfelten sie mit Fichtenholz. Kempe Thill sind bekannt dafür, dass sie mit ihren Bauherren endlose Diskussionen über den Einsatz von Materialien führen. Um ein geringes Budget zu bewältigen, werden diese auch schon mal unkonventionell verarbeitet. Beim Bau des Niederländischen Pavillons auf der Internationalen Gartenbauausstellung in Rostock 2003 bestücken sie ein zehn Meter hohes Stahlgerüst mit mobilen Efeuheckenelementen, wie sie normalerweise für die Abtrennung von Reihenhausgärten produziert werden. Bei dem mobilen Kunstmuseum für Rotterdam, für das sie unter anderem den Bauwelt-Preis erhielten, stapeln sie weiße, leicht lichtdurchlässige Plastikbierkästen übereinander und verbinden diese, für den Betrachter unsichtbar, mit Gewindestangen. Und für den Vorhang der lang gestreckten Bühne aus Beton, die dem bisher unbeachteten Grotekerkplein im Rotterdamer Zentrum zu mehr Leben verhelfen soll, verwenden sie einen Stoff, der normalerweise in der Viehhaltung eingesetzt wird. Wer genau hinschaut, erkennt, wie präzise sein Verschwinden in der Seitenbühne detailliert ist.





Als eine Jury Kempe Thill im Jahr 2005 den Maaskantpreis für junge Architekten verleiht, begründet sie das unter anderem mit den Worten: „Sie beweisen ein gutes Auge für die Aktualität gesellschaftlicher Fragen und für die Relevanz, die diese für die Architektur besitzen.“
André Kempe und Oliver Thill gehen nicht auf den Golfplatz, um Aufträge zu bekommen. Eher setzen sie sich für die Belange der Architekten ein und diskutieren mit Politikern über die Zukunft der Zunft. Vor zwei Jahren haben sie eine Studie über das niederländische Wettbewerbswesen veröffentlicht und sind mit ihrer Forderung für niedrigere Teilnahmehürden bei Vergabeverfahren anschließend bis ins niederländische Parlament gezogen.

Ausprobieren, Grenzen ausloten, loslegen. Wer wagt, gewinnt. Diese Einstellung scheint sich wie ein roter Faden durch ihre Karriere zu ziehen. Warum auch nicht.