Interview
Kaum sind wir im fünften Stock angekommen, nimmt uns Kersten Geers sofort wieder mit nach unten. Er will mit zwei Mitarbeitern ein Projekt durchsprechen und das tun sie am liebsten in einer nahen Kaffeebar. „Es ist hier viel lebhafter als im Büro – und der Kaffee ist viel besser“, lacht Geers. David van Severen musste das Interview leider kurzfristig absagen, er hält eine Präsentation in Paris. Aber Kersten Geers ist – nach zwei Espressi – lebhaft für zwei; er gestikuliert, redet, läuft umher und kramt Kunstbücher, Magazine und Projektbroschüren hervor, in denen er unbedingt etwas zeigen muss. Man merkt, er ist das Reden gewöhnt. Er redet lang und ausführlich und es ist fast unmöglich, ihn zu unterbrechen. Aber das ist auch gar nicht nötig. Seine Monologe sind ebenso informativ wie unterhaltsam.
Kersten Geers:
Wir sind ja 2006 eher zufällig in diesem Gebäude gelandet. David und ich hatten
schon seit 2002 an gemeinsamen Projekten und Wettbewerben gearbeitet. Das
haben wir wie die Nomaden immer bei ihm in Ghent oder bei mir in Rotterdam gemacht.
2005 konnten wir den Wettbewerb in Seoul gewinnen und hatten das Gefühl,
dass wir jetzt einen gemeinsamen, festen Ort haben sollten. Wir arbeiteten dann eine
Weile im Büro von Davids verstorbenem Vater, aber das war eine bizarre Situation.
Auch, weil wir beide in Brüssel wohnten und immer gemeinsam ins Büro nach Ghent
fuhren. Ich arbeitete 2005 noch in Rotterdam und war eigentlich noch gar nicht bereit,
wieder nach Belgien zu gehen. Aber wenn schon Belgien, dann sollte es Brüssel
sein.
Warum?
Kersten Geers:
Es ist weder flämisch noch wallonisch, was für Belgien sehr wichtig ist! Brüssel ist eine
internationale Stadt in einem kleinen, sehr komplizierten Land ohne feste Nationalität.
Die verschiedenen Sprachen, die inneren Debatten. Deswegen lieben wir
Belgier Europa so sehr. Und deswegen ist man es als Belgier vielleicht eher gewohnt,
dass man sehr clever mit komplexen Sachverhalten umgeht und die Mittel, die zur
Verfügung stehen, sehr effizient nutzt. Wir können Konflikte und Widersprüche gut
aushalten. Vielleicht sind gewisse Dinge dadurch erst interessant.
Außerdem mag ich Brüssel, weil es eine recht komplexe Urbanität und eine ziemlich
kaputte Struktur hat. Man fühlt sich immer wie ein Fremder, auch wenn man schon
Jahre hier wohnt. So wie eben mit euch in der Kaffeebar: Mit den Leuten vom Büro
spreche ich niederländisch oder englisch, mit euch englisch und dann dreht man sich
zu dem Mädchen am Tresen und bestellt Espresso auf Französisch. In Brüssel kann ich
mit dem Gefühl leben, nicht wieder zu Hause in Belgien zu sein.
Auf der Architektur-Biennale 2008 habt ihr den belgischen Pavillon gestaltet. Da wart ihr fast so etwas wie die Vertreter der jungen, belgischen Architektur. Siehst du etwas typisch Belgisches in eurer Architektur oder eurer Arbeitsweise?
Kersten Geers:
Es ist immer schwer, sich selbst zu beschreiben. Ich hoffe, dass wir eher ein europäisches
Büro sind als ein flämisches, ein wallonisches oder ein belgisches. Ich denke,
es geht dabei nicht um deinen Standort, sondern um deine Wurzeln – und unsere
Wurzeln sind die europäische Kultur.
Wir interessieren uns zum Beispiel sehr für die italienische Renaissance. Ich würde
sogar so weit gehen, dass es völlig absurd ist, als Architekt arbeiten zu wollen, ohne
sich intensiv mit der Architektur der Renaissance zu beschäftigen. Donatello Bramante
zum Beispiel war wahrscheinlich der beste Architekt der letzten 600 Jahre! (lacht)
Ich denke, unsere Arbeiten haben immer einen Bezug zum Alten. Aber wir sind nicht Retro. Wir feiern das Vergangene nicht, sondern nutzen es. Wir sind an einem komplexen Umgang mit den Realitäten interessiert.
Wir interessieren uns ja auch für Los Angeles, für die Kunst von David Hockney oder Ed Ruscha [er holt Bücher, blättert darin herum, zeigt auf Bilder]. Wir interessieren uns auch für Aldo Rossi, James Stirling oder Reyner Banham. Einiges davon führt nach Los Angeles, wie etwa Hockney und Banham, die als Europäer dort waren und diese Stadt intensiv beobachtet und bearbeitet haben. Das sind alles melting pots: Los Angeles, Europa, Brüssel. Es gibt sehr viele Verknüpfungen. Wie Hockney mit Perspektiven spielt, wie sie immer etwas unbeholfen, un-räumlich aussehen. Ähnlich wie die frühen Perspektiven in der Renaissance. Bilder, die auf widersprüchliche Art sehr räumlich sind und doch zweidimensional bleiben.
Wir interessieren uns auch für John Baldessari, für Ungers – naja, zumindest für ein paar Dinge von Ungers. Eher für seine Gedanken, als Architekt war er oft recht enttäuschend. Der frühe Koolhaas war ein Genie. Die traurige Geschichte ist, dass seine Epigonen überhaupt nicht spannend sind. Ihnen fehlt seine Radikalität und Komplexität, sie haben nur die Bilder übernommen. Oft interessiert uns bei Künstlern und Architekten ja eine ganz bestimmte Periode und die Zeit, in der Koolhaas und Kollhoff für Ungers gearbeitet haben, das ist natürlich ein ganz fantastischer Moment gewesen!
Aber uns interessiert auch die frühe Wiener Moderne, bevor es dieses Label wurde, als das sie verkauft wurde. Als es für eine kurze Zeit darum ging, reduzierte Formen zu finden, die eine große räumliche Komplexität herstellen konnten.
Bleiben wir doch dann erst einmal bei Venedig. 2010 wart ihr wieder dort und habt mit dem Fotografen Bas Princen zusammen ein altes, verlassenes Gartenhäuschen hinter dem Arsenale gestaltet. Ähnlich wie 2008 habt ihr mit wenigen Mitteln ein bestehendes Gebäude als Ausstellungsstück inszeniert. Können wir diese Arbeiten als stellvertretend für die Architektur von Office lesen?
Kersten Geers:
Ich denke, dass wir in jedem einzelnen Projekt versuchen, alles auszudrücken wofür
wir als Office stehen. Andere müssen beurteilen, ob uns das auch gelingt. Wir sagen
immer, unsere Projekte sind wie Mitglieder einer Familie. Sie können sehr unterschiedlich
sein, so wie Brüder und Schwestern sehr unterschiedlich sein können, aber
sie sind alle miteinander verwandt. Oft überrascht uns das selbst am meisten. Dann
fangen wir mit einem neuen Projekt an und probieren einige Dinge aus und sind
plötzlich von irgend einem bizarren Aspekt total begeistert – um am Schluss festzustellen,
dass es auf merkwürdige Art einem anderen Projekt ähnelt. Aber nicht, weil
wir das von Anfang an wollten, sondern weil es sich durch die Themen, für die wir uns
interessieren, und aus der Logik jedes einzelnen Projektes ergibt.
So wie bei den beiden Projekten in Venedig?
Kersten Geers:
Ich muss sagen, dass wir 2010 beinahe nicht teilgenommen hätten. Wir wurden sehr
spät gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, etwas mit diesem Gebäude zu machen,
das zwar zu dem hintersten Teil des Biennale-Geländes gehört, aber noch nie genutzt
worden war. Wir hatten fast keine Zeit mehr für einen Entwurf und dafür wurde uns
ein Budget von 15.000 Euro angeboten.
Für den gesamten Beitrag?
Kersten Geers:
Alles inklusive! Und um noch Sponsoren aufzutreiben war es schon zu spät. Für
den belgischen Pavillon hatten wir 2008 etwa 150.000 Euro! Was sollten wir tun?
Wir wollten auf keinen Fall etwas auch nur annähernd Ähnliches machen. Die Leute sollten nicht denken: ‚Ach, das sind wieder die Jungs mit dem leeren Gebäude und dem Konfetti. Letztes Mal war das ja ganz lustig, jetzt haben sie eine schlechte Kopie davon gemacht.‘ Wir wollten etwas ganz, ganz anderes machen. Wir wollten kein leeres Gebäude zeigen, konnten aber in diesem Gebäude nichts ausstellen. Jede Arbeit wäre von der Wärme oder der Luftfeuchtigkeit beschädigt worden. Jede Veränderung an dem Gebäude wäre zu teuer gewesen.
Also wollten wir vielleicht einige unserer eigenen Collagen ausstellen und sprachen mit dem Fotografen Bas Princen, der ein guter Freund von uns ist. Wir diskutieren schon seit Jahren alle unsere Projekte mit Bas, er ist eine Art dritter Partner. So entstand die Idee, Fotos von ihm mit unseren Collagen zu mischen. Seine und unsere Arbeiten sind sich in gewisser Weise sehr ähnlich, sie beeinflussen sich gegenseitig, weil wir uns so oft unsere Arbeiten zeigen und miteinander diskutieren. Wir wussten also, dass diese Kombination funktionieren würde. Uns gefiel auch die Idee, dass durch die Kombination von Collagen und Fotografien Realität und Fiktion miteinander vermischt würden. Dann entstand auch die Idee, dass Bas ein Foto des Gebäudes macht, und es sah meist aus wie eine Collage (lacht). Das irritierte einige Besucher. Solche bizarren Momente mögen wir sehr.
Aber ihr habt dann nicht nur innen ausgestellt, sondern das Gebäude auch außen verändert und inszeniert.
Kersten Geers:
Das war eine ganz logische Idee. Wir hatten diese sieben Räume in dem Gebäude,
aber sie waren nicht miteinander verbunden. So wären die Leute in einen Raum
gegangen und hätten gedacht: ‚Aha, Fotos‘ und wären gleich weiter gegangen. Wir
brauchten also eine Verbindung, eine Klammer, einen Gang. Und wegen des knappen
Budgets musste es der billigste Gang werden, den man sich überhaupt nur vorstellen
könnte. So kamen wir auf die Idee mit dieser sehr leichten Konstruktion, wie
bei Marktständen. Schmale, weiße Rohre und ein textiles Dach, wie eine Werbefläche,
aber in Silber und ohne Werbung. Wie ein Vordach, dass die Form des vorhandenen
Dachs fortschreibt und eine Veranda bildet. Dann fanden wir heraus, dass Piet Oudolf
für diese Biennale direkt neben ‚unserem‘ Gebäude einen wunderschönen Garten
anlegen würde, der aber – wie mit dem Strich gezogen – direkt vor dem Gebäude
aufhören sollte. Also schlugen wir vor, wenigstens die Kieswege des Gartens zu verlängern,
sodass sie unter unserem Vordach den Boden der Veranda formen würden.
Am Ende stellten wir noch ein paar Stühle in den Schatten und waren fertig.
Und hattet ein Resultat, das mit dem belgischen Pavillon 2008 verwandt war, aber keine Kopie. Es war wieder eine wunderbar leichte Inszenierung eines vorhandenen Gebäudes – und der perfekte Ort für eine ruhige Rast in all der Unruhe der Architekturbiennale.
Kersten Geers:
Nachdem wir unsere Installation selbst aufgebaut haben, dachten wir: Mist, jetzt ist
es doch dasselbe geworden wie vor zwei Jahren. Das ist eben etwas, das uns passiert. Ich glaube,
das ist etwas Gutes. Wir wiederholen uns ja nicht. Aus der Beschäftigung mit gewissen
Themen entstehen Serien, die sich durch unsere Arbeiten ziehen. Ein Projekt bezieht
sich immer auf das andere. Sie wachsen ja alle auf demselben Humus. Würden
wir uns wiederholen, würden wir uns sehr schnell langweilen.
Welche Themen sind das?
Kersten Geers:
Wenn ich eine präzise Antwort auf diese Frage hätte, dann hätte ich nichts mehr zu
tun oder es würde mir zumindest weniger Spaß machen. Frage einen Maler, worum
es in seiner Arbeit geht. Er weiß es nicht. Er malt einfach und malt und malt und eines
Tages wird er sagen, hey, inzwischen bin ich viel besser geworden. Bei uns ist das so
ähnlich. Immerhin haben wir einige Themen entdeckt, die uns mehr interessieren als andere.
Das ist gut, dadurch haben wir
mehr Zeit uns den Themen zu widmen, die wir spannend finden. Ich denke, derzeit
ist uns die Beschäftigung mit Typologien und Raum-Typen wichtig. Auch historisch
zu betrachten, wie gewissen Typen auftauchen und wieder verschwinden, um dann
einige davon in der eigenen Arbeit aufzugreifen.
Ihr habt im Bezug auf eure Arbeit auch immer wieder von einer ‚Ökonomie der Mittel‘ (economy of means) gesprochen.
Kersten Geers:
Natürlich. Gerade heutzutage ist das besonders wichtig in der Architektur. Damit
müssen wir bewusst umgehen. Was ist meine Intention? Was will ich ausdrücken und
womit kann ich das effektiv erreichen? Ich denke, unsere Architektur benutzt ein
relativ kleines Vokabular. Zum Glück haben wir festgestellt, dass dieses begrenzte
Vokabular eine hohe räumliche Komplexität erzeugen kann.
Wie wichtig ist euch dabei die Funktion?
Kersten Geers:
Als verantwortungsbewusster Architekt baust du Häuser, die funktionieren, die von
Menschen genutzt werden können. Aber viele Qualitäten von Gebäuden liegen oft
genau in den Dingen, die nicht direkt einem bestimmten Nutzen dienen. Es gibt
einen Unterschied dazwischen, wie die Dinge gestaltet sind und wofür sie gestaltet
wurden. Gerade darin kann ihr Reiz liegen. Ich denke, in unserer Architektur suchen
wir genau nach diesen Widersprüchen. Wir sind sicher keine Funktionalisten. Ich glaube,
diese Die-Hard-Modernisten haben uns in ganz schöne Schwierigkeiten gebracht.
Es ist nicht wichtig, Räumen eine einzelne Funktion zuzuweisen. Es ist aber wichtig,
räumliche Hierarchien anzubieten.
Ist dass also das Geheimnis, wie eure Architektur gleichzeitig präzise und mehrdeutig wirken kann?
Kersten Geers:
Darin liegt kein Widerspruch. Wir sind nicht an Perfektion interessiert. Die Idee, ein
perfektes Gebäude zu entwerfen, ist an sich absurd. Dafür müsste man den gesamten
Kontext ausblenden. Es gibt doch immer Zwischenräume, Räume des Übergangs,
Räume dazwischen. Perfektion kann nur scheitern. Man müsste ja ein ganzes, perfektes
Universum schaffen. Und sogar das wäre wahrscheinlich uninteressant.