Crystal Talk
Text: Norman KietzmannFotos: Torsten Seidel, R&Sie(n) Architects

Interview

Interview François Roche - R&Sie(n) Architects


Es ist spätnachmittags, als ich das Büro von R&Sie(n) betrete – ein ehemaliges Ladengeschäft nur wenige Schritte vom Boulevard de Belleville entfernt. Am Eingang befindet sich eine Gruppe großer Sitzkissen. Die Wände sind mit transparenter Noppenfolie verhüllt. Wie eine Schleuse führt ein schmaler Gang in einen großen, hinteren Raum. Auch hier sind die Wände hinter Folie verborgen und wirken beinahe medizinisch clean, würden sie nicht zahllose Skizzen und Renderings übersät sein. Ein Labor, ein Atelier, eine Fabrik? Vielleicht von allem etwas. Auf den Sitzsäcken am Eingang beginnt schließlich unser Gespräch, während vor dem großen Fenster zur Straße das Leben des 20. Arrondissements von Paris vorbeizieht. Ein Gespräch über Gebäude als Fiktion, unbekannte Territorien und ein stacheliges Alien in den Schweizer Bergen.

François Roche, zusammen mit ihrer Büro- und Lebensparterin Stéphanie Lavaux haben Sie 1989 R&Sie(n) gegründet. Seitdem gehen keine Fotos von ihnen heraus, stattdessen zeigen sie ein am Computer generiertes Mischwesen. Warum dieses Versteckspiel?

François Roche:
Wir wollen nicht, dass unsere Arbeit mit einer Person oder einem Gesicht assoziiert wird. Sie soll in gewisser Weise nicht identifizierbar sein. Das Bild, das wir von uns zeigen, ist eine Kreuzung aus Stephanie, mir und Leuten, die zu diesem Zeitpunkt in unserem Büro gearbeitet haben. Es ging darum zu zeigen, dass unsere Produktion ein Hybrid ist. Für uns liegt darin eine Kritik an der bestehenden Praxis: Denn was viele bekannte Architekten heute machen, ist vor allem sich selbst zu repräsentieren. Sie entwerfen keine Gebäude, sondern ein Bild von sich selbst.


Sie inszenieren sich als Marken.

François Roche:
Ja, sie sind wie L‘Oréal oder irgendein Waschmittel. Dabei sollte Architektur auch ohne sie als Person auskommen. Wir haben unser Diplom in den späten achtziger Jahren gemacht. Vielleicht sind wir deswegen ein wenig sensibel, was den Starkult anbelangt. Denn alles wurde damals durch die Werbung kanibalisiert, die damit zugleich ihre eigenen Stars hervorgebracht hat. Die Faszination an diesen Schamanen, als die sich Architekten und Designer seitdem geben, hält bis heute an. Wir hatten genug von dieser Selbstvermarktung und versuchen nun ein anderes Modell.

Wofür steht eigentlich das Kürzel R(&)Sie(n)?

François Roche:
Es ist dasselbe wie mit unserem Portrait. R&Sie(n) ist der zufällige Zusammenschluss aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Namen. Denen von Stéphanie und mir und Personen, mit denen wir zu diesem Zeitpunkt zusammengearbeitet haben. Auch sie wollten mit erwähnt sein. Es ist wichtig, dass jeder seine Meinung einbringen kann. Die Architektur ist ein Schlachtfeld, auf dem Konflikte ausgetragen werden. Das passiert bei uns jeden Tag. Das Schöne an dem Namen ist, dass er in jeder Sprache anders ausgesprochen werden kann. Im Deutschen klingt er ein wenig wie „Hören Sie“, die Buchstaben „R.S.I.“ können auch als Kürzel für „Reel, symbolique, imaginaire“ gelten. Das war der Titel eines Kolloquiums von Jaques Lacan, der großen Einfluss auf uns ausgeübt hat. Wir sind Kinder der französischen Philosophie der siebziger Jahre und doch ein wenig zu spät geboren, da wir sie erst Ende der achtziger Jahre entdeckt haben. An den Architekturschulen wird Philosophie ja nicht unterrichtet. Bis heute nicht. Ein Stück von dieser Sehnsucht steckt sicher auch hier mit dabei.

Wir würden Sie Ihre Arbeit beschreiben?

François Roche:
Sie ist Praxis als Fiktion, Fiktion als Praxis, Spekulation, Recherche. Sie lässt sich nicht auf ein einziges Protokoll zusammenfassen. Es geht darum zu denken, dass die Realität zugleich einen Teil Fiktion aufnimmt. Sie besteht nicht nur aus dem Sichtbaren, sondern versteckt zugleich eine andere Realität, ein Stück Traum oder Fantasma. Etwas, das mitunter auch Angst machen kann. Für uns ist die Frage interessant, wie sich daraus eine Ästhetik herstellen lässt. Die Wirklichkeit wird auf diese Weise zu einer erzählerischen Strategie.



Für Ihr Projekt „lost in Paris“ beispielsweise haben Sie in eigens angefertigten Glaskolben eine aggressive Bakterienkultur gezüchtet und in den Garten eines Pariser Stadthauses installiert. Die Bedrohung wird somit zum Teil des Projektes, das auf diese Weise zugleich eine eigene Dynamik erhält.

François Roche:
Die Idee bestand darin, über die Fassade des Gebäudes Bakterien zu erzeugen, die einen Teil der Pflanzen um sie herum sterben lässt. Das ist keine Form von Ökologie, die aus dem Disneyland entstammt oder einer bürgerlichen Repräsentation dient. Dennoch stellen auch diese Vorgänge einen ganz natürlichen Prozess da, wenngleich es durchaus zu Problemen mit den Nachbarn kommen kann. Die Dynamik und das Fließen der Substanzen fanden wir sehr spannend im Kontext von Architektur, deren Identität auf diese Weise zugleich in Frage gestellt wird. Ihre Grenzen verschwimmen.

Für leichtes Unbehagen haben Sie auch mit Ihrem Parkhaus „Asphalt Spot“ im japanischen Tokamashi gesorgt. Deren Stellflächen folgt einem dynamischen Wellenschlag, sodass der Großteil der Fahrzeuge nur auf drei Rädern steht. Woher diese Lust am Risiko?

François Roche:
Dass Interessante darin ist, dass man beim Einparken die Reaktionen des eigenen Autos beobachten muss. Es bekommt dadurch etwas Animalisches als wäre es ein Pferd. Die Topografie formt Gefahr, ohne tatsächlich gefährlich zu sein. Dennoch löst sie etwas aus beim Betrachter, was ihn zwangsläufig in Beziehung zu seiner gebauten Umgebung setzt. Wir wollen Gebäude entwickeln, die nicht isoliert erscheinen, sondern auch ein Stück weit Angst vor ihrer eigenen Erscheinung und Autonomie haben. Sie folgen der Ästhetik des Provisorischen und Unfertigen, auch wenn sie am Computer entstanden und mit raffinierten Details ausgearbeitet wurden. Sie erzählen ihre Zerbrechlichkeit.






Wenn man Sie so hört, könnte man fast meinen, Sie hätten selbst ein wenig Angst vor der Architektur.

François Roche:
Wir haben eine sehr komplexe und schwierige Beziehung mit den eigenen Autoritäten auf dem Gebiet der Architektur, sei es in den Verwaltungen, den Institutionen. Wir sagen immer, wir sind „geborene Immigranten“ in unserem eigenen Land. Auf der anderen Seite sind wir auch nicht außerhalb des Systems. Wir werden im August zum achten Mal an der Architektur-Biennale in Venedig teilnehmen, wir unterrichten an der Columbia University in New York oder der Angewandten in Wien. Dennoch versuchen wir einen anderen Zugang. Die Labors, in denen wir an den Hochschulen arbeiten, befassen sich bei weitem nicht nur mit Architektur. Wir spekulieren zum Beispiel auf der Ebene von Robotern, wie diese als ein aktives Werkzeug in der Transformation von Städten dienen können. Das Ergebnis dieser Recherchen sind Ausstellungen, die jeweils einem speziellen Thema gewidmet sind.

Wie Ihre Ausstellung „Architecture des Humeurs“, die Anfang 2010 im „Le Laboratoire“ in Paris zu sehen war und Schnittstellen zwischen Architektur, Neurobiologie und Mathematik untersuchte.

François Roche:
Ja, wir haben ganz drei Monate für dieses Projekt mit einem Team von zehn Wissenschaftlern, darunter Mathematiker, Programmierer und Roboterdesigner zusammengearbeitet und während dieser Zeit auch unsere architektonischen Projekte ausgesetzt. Für uns ist dieser Teil unserer Arbeit sehr wichtig. Wir möchten uns nicht nur der professionellen Praxis widmen und Gebäude planen. Wir möchten auch das Risiko eingehen, Verbindung zur Wissenschaften und neuen Technologien einzugehen.

Welche Rolle spielen hierbei die digitalen Medien? Den Computer haben Sie bereits sehr früh für Ihren Entwurfsprozess genutzt.

François Roche:
Als wir den Computer 1995 entdeckt haben, waren wir fast die Einzigen, die auf diese Weise gearbeitet haben. Als Architekten, die mit einem Rotring geboren wurden, haben wir über den ersten Mac, Windows 95 oder schließlich Windows 98 mitbekommen, wie der Computer ein demokratisches Werkzeug wurde. Die Metamorphose der Werkzeuge konnten wir in Echtzeit in unseren Arbeitsprozess aufzunehmen. Wir versuchen seitdem, das Digitale als ein anderes Territorium zu betrachten, das zugleich Rückschlüsse auf die Realität zulässt. Ein wenig wie „Utopia“ von Thomas Morus.

Der in seinem gleichnamigen Roman von 1516 eine bessere Gesellschaft auf einer fernen Insel beschreibt...

François Roche:
Ja, denn die Utopie ist entscheidend für die Architektur. Sie erlaubt die Distanz, um die Gegenwart kritisch zu betrachten. Das Interessante an Morus‘ Roman ist, dass Utopia in der Gegenwart liegt. Sie war für ihn keine Projektion in die Zukunft, sondern eine Möglichkeit, die zur selben Zeit aber an einem anderen Ort existiert. Diese Form von Utopie hat uns immer interessiert. Nicht die Utopie der Futuristen oder des 19. Jahrhunderts, die in gewisser Weise religiös war. Man lässt sich heute unterjochen, um in der Zukunft, wenn alles besser wird, befreit zu werden. Das ist der Mechanismus, den die Moderne von der Religion übernommen hat. Unsere Form der Utopie liegt in der Spekulation. Wir werfen einen Punkt in die Zukunft und versuchen uns diesem mithilfe der Technologie und unserer Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern anzunähern.



Wie gehen Sie an ein Projekt heran?

François Roche:
Wir haben uns sehr langsam an die große Dimension herangetastet. Wir müssen ein Grundstück identifizieren, es untersuchen, ein Szenario ableiten. Viele Architekten haben eine ungeheure Angst vor dem Ort und setzen immer noch auf eine internationale und austauschbare Architektur. Wir bevorzugen, ein Projekt direkt vor Ort und aus dem Ort heraus zu entwickeln. Das bedeutet aber auch, nicht wiederholen zu können, was man vorab gemacht hat, was wiederum viel Zeit und auch viel Geld kostet. Aber vielleicht liegt darin unsere romantische Seite. (lacht)


An welchen Projekten arbeiten Sie gerade?

François Roche:
Wir arbeiten gerade an dem Neubau des „B_Mu“-Museums in Bangkok, das mit 5.000 Quadratmetern Nutzfläche und 30 Metern Höhe unser bisher größter Bau wird. Auch realisieren wir mit „Water Flux“ ein Projekt in der Schweiz, das als Informationszentrum über das Schwinden der Gletscher dienen wird. Es ist ein Kokon, der komplett aus Holz gefertigt wird und ohne Beton auskommt. Ein wenig wie eine selbsttragende Karosserie im Autobau. Das Holz wird in den umliegenden Wäldern abgeholzt, digital gefräst und anschließend vor Ort zusammengebaut. Die Tentakel an der Fassade sind dafür gemacht, den Schnee im Winter aufzustauen. Das Gebäude befindet sich in 2000 Metern Höhe. Der Schnee kann sich aufgrund dieser Form leicht an der Fassade andocken, sodass das Gebäude seine Erscheinung mit den Jahreszeiten vollständig verändern wird. Es verhält sich dann umgekehrt wie ein Baum. Im Sommer ist es nackt und sichtbar, im Winter ist es vollständig mit Schnee bedeckt.

Wie würden Sie den Aufbau dieses Hauses beschreiben, dessen innere Struktur als fließendes Raumgefüge organisiert ist?

François Roche:
Mich interessiert eine Architektur, die nicht mehr in ihren einzelnen Bestandteilen erkennbar ist und keine Unterscheidung zwischen Struktur, Membran, Haut, Wand oder Decke mehr möglich macht. Ein wenig wie in der Medizin von Hippokrat, als der Körper noch nicht in Organe unterteilt sondern als Fluss von Säften aufgefasst wurde. Auch Gilles Deleuze oder Antonin Artaud haben diesen „Körper ohne Organe“ beschrieben. Die Neurobiologie kommt heute übrigens an diesen Punkt wieder zurück und unterscheidet den Körper in Zonen, zwischen denen die Substanzen fließen. Das Interessante an diesem Bau war auch, wie wir ihn durchgesetzt haben.


Sie meinen die Zustimmung durch den obligatorischen Volksentscheid?

François Roche:
Ja, es ist nicht einfach in der Schweiz, ein radikales Gebäude wie dieses zu bauen. Das Dorf Évolène mit seinen 2000 Einwohnern liegt abgeschottet hoch oben im Gletschertal. Doch an diesem Ort hat sich bis heute eine sehr spezielle Form von Karneval gehalten. Die Bewohner tragen in dieser Zeit monströse, hölzerne Masken und schlagen sich. Das geht drei Tage so. Der öffentliche Raum ist für diese Zeit ein gewalttätiger Raum. Als es zur Abstimmung kam, sagte mir der Bürgermeister schon vorab, dass das nichts werden wird. Ich habe dann bei der Versammlung eine dieser Maske genommen und erklärt, dass das Gebäude, das selbst ein wenig wie ein Monster aussieht, auf genau dieselbe Weise funktioniert. Während die Masken dazu da sind, den Winter zu vertreiben, tut es dieses Museum mit der Erwärmung der Erde. Schließlich war die Stelle, wo nun das Gebäude errichtet werden soll, noch vor 20 Jahren von dichtem Gletschereis bedeckt. Die Menschen haben gemocht, dass ich das Gebäude mit einer persönlichen Erzählung und nicht über die Funktionalität der Fassade erklärt habe und schließlich zugestimmt. Das gab eine riesige Aufruhr in der Schweiz, wie ein hinterwäldlerisches Bergdorf ein solches Gebäude akzeptieren kann. Dabei hat es selbst uns überrascht. (lacht)

Vielen Dank für das Gespräch.



Interview: Norman Kietzmann
Norman Kietzmann studierte Industriedesign in Berlin und Paris und schreibt als freiberuflicher Journalist über Architektur und Design für Publikationen wie Baunetz Designlines, Deutsch, Plaza, Odds and Ends. Er lebt und arbeitet in Mailand.

Projektleitung: Andrea Nakath