Crystal Talk
Text: Katrin VoermanekFotos: David Franck, Torsten Seidel, Torchondo

Interview

Interview jmayerh

Was wäre das für ein schöner Einstieg gewesen: Gibt es im Leben von Jürgen Mayer H. eine quasi frühkindliche Prägung durch Ken Adam, den Schöpfer der legendären James Bond-Welten? Die Räume, die Möbel, die Kurven - das passt doch alles prima zusammen, besser kann ein Interview ja kaum anfangen! Leider Fehlanzeige: „Nein, da kenn’ ich mich gar nicht aus, ich kann mich gerade mal dunkel an ein paar von den Titeln erinnern. Meinen ersten Bond habe ich total spät, erst mit Mitte 20 gesehen.“

Schade eigentlich. Dann halt gleich zum Ernst des Lebens:


Ein Architekt, der Häuser baut, Möbel designt und obendrein als Künstler von einer renommierten Berliner Galerie vertreten wird. Wie passen diese unterschiedlichen Maßstäbe zusammen?


Für mich ist das alles sehr eng verbunden. Interessant ist vor allem der Blick auf den Alltag, und der artikuliert sich in mehreren Maßstäben. Bei der Architektur sind die Abläufe komplexer, allein schon, weil viel mehr Leute involviert sind. In den kleineren Größenordnungen hingegen kann man unkompliziert herausfinden was man eigentlich sagen will, nach unterschiedlichen Formulierungen suchen, es ist wesentlich einfacher zu experimentieren. Die Themen sind eigentlich fast immer die gleichen.

Was überträgt sich denn über die Grenzen der Genres hinweg?


Ich glaube am ehesten die Arbeit mit dem, was ich Funktions- und Materialpotenzial nennen würde. Was steckt in einem Material an Möglichkeiten? Was passiert, wenn ich es aus seinem gewohnten Kontext in einen anderen mitnehme? Wie kann ich Material gezielt „falsch“ einsetzen? Wie lassen sich die Sehgewohnheiten in Frage stellen, bewusst Irritationen auslösen? Das sind Themen, die ich spannend finde, und in der Beschäftigung mit ihnen liegt eine Erklärung dafür, warum zum Beispiel dieser Polyurethan-Überzug bei der Mensa in Karlsruhe eigentlich aus dem Bereich der Dachabdeckung stammt oder warum an den Bisazza-Möbeln viele gut finden, dass aus eigentlich hartem Material etwas Weiches entstanden ist.




Wird nicht genau an diesen beiden Fällen ein Unterschied zwischen den Maßstäben klar? Bei den Möbeln, die vielleicht sogar etwas von kleinen Architekturen haben, ist alles erlaubt. Beim Gebäude, das wie ein Möbel auf dem Uni-Campus steht, handelt man sich schnell den Vorwurf ein, eherne Grundsätze der Materialgerechtigkeit zu verletzten.

Materialgerechtigkeit oder Materialinnovation – wo verläuft denn da die Grenze? Und wer will sagen, was besser oder wertvoller ist? Wir wollten einen elastischen Raum schaffen mit kontinuierlichen Oberflächen, das war die Grundidee des Entwurfs, die wir erstmal ohne Festlegung auf ein bestimmtes Material verfolgt haben. Dem vorgegebenen Budget nach wäre eine Kiste mit Fenstern drin gewesen, wir mussten also knallhart kalkulieren. Beton und Stahl schieden aus, deswegen wurde es eine Holzkonstruktion. Ein wirtschaftliches und sehr fortschrittliches System aus vorgefertigten Elementen: Hohlkästen, Platten aus Brettschichtholz und ein besonders fester Holzwerkstoff, das ganze dann mit eben jener Kunststoffschicht überzogen. Wir haben das Maximum aus den Materialien herausgeholt, um mit ihnen den Raum und die Atmosphäre zu schaffen, die wir wollten. Baukosten und Bauzeit blieben im Rahmen, und pflegeleicht ist’s auch noch, was in Baden-Württemberg wichtiger sein kann als anderswo.


Dieses Auseinanderziehen, das „Verschleifen“ von Oberflächen, das Erzeugen von Irritation – das sind Themen, die Sie schon lang begleiten.

Ja, und noch einige andere Themen mehr. Wenn ich auf die letzten zehn Jahre „Produktion“ zurückschaue, dann kommen bestimmte Sachen immer wieder hoch und vernetzen sich mit etwas Neuem. Aus etwas, das wir vielleicht zu einer ganz anderen Zeit und unter ganz anderen Bedingungen für ein Projekt recherchiert haben, ergibt sich plötzlich die Antwort auf eine Frage bei einem ganz anderen Projekt. Und es stimmt: Ich finde, dass es in der Architektur mit einmal Hinschauen nicht getan sein darf, dass es etwas zu entdecken geben muss, dass wir als Betrachter auf mehreren Ebenen angesprochen werden sollen. Ich jedenfalls will Architektur machen, die nach einem zweiten Blick verlangt.

...wie das Stadthaus in Ostfildern, bei dem man auch nicht gleich merkt, dass es um ein paar Grad gekippt ist...

Genau, oder wie bei unseren Bauten für Danfoss Universe, wo es nicht wie bei den derzeitigen Freiformen um ein Aufblähen geht, sondern um das genaue Gegenteil, um ein Vakuum, ums Schrumpfen und Komprimieren. Für mich ist es ein Ausdruck von Qualität, wenn Architektur verschiedene Schichten der Zugänglichkeit hat, wenn es eine Verführung über das Bild gibt, aber tiefer drunter dann auch „Diskursmaterial“, also Stoff für eine gedanklich und intellektuelle Auseinandersetzung.

Den intellektuellen Diskurs suchen und betreiben Sie ja auch schon seit etlichen Jahren als Lehrer. Das Büro wird immer größer und nach New York ist es nicht gerade der allernächste Weg. Trotzdem unterrichten Sie nun schon seit 2004 jeweils im Herbst an der dortigen Columbia University, davor waren Sie als Gastprofessor in Harvard und an der AA in London. Was bringt das außer akademischem Glanz im Lebenslauf und vielen Flugmeilen?

Die Zeit, die ich in New York bin, geht immer auf Kosten des Büros, ganz klar. Da steigt dann der Druck enorm und es wird auch immer schwieriger, das zu organisieren. Aber es ist umgekehrt ein Genuss und ein wertvoller ‚input’ für mich persönlich, bestimmte Fragen in der Gruppe zu diskutieren und ihnen wirklich auf den Grund zu gehen. Das funktioniert eben nicht im Büroalltag, sondern nur an einer Hochschule. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich die Studenten entwickeln und mit ihnen über ihre Ideen zu diskutieren, davon profitiert man als Lehrer enorm. Deswegen ist das alle Mühe wert.



Wer in den „Event“-Kalender der Columbia schaut, könnte blass werden vor Neid. In einer einzigen Woche finden eine Diskussion zwischen Mark Wigley und Charles Jencks und gleich drei Vorlesungen von ‚Foreign Office Architects’ statt. In der Woche drauf geht es ähnlich weiter.

Das ist schon Luxus, das gebe ich zu. Seit Mark Wigley dort Dekan ist, heizt er diese Schule wie ein Treibhaus auf, da passiert im Moment sehr viel.

„the expanded architect – away from it’s default settings“ steht groß als Motto auf der Startseite.




Auch in den USA ist die Architektur komplizierter geworden. Auch dort geht es um sich ändernde Berufsbilder, um neue Möglichkeiten in der Architektur und die Frage, wie dann die richtige Ausbildung aussehen muss. Die renommierten Architekturschulen sind immer um ein klares Profil bemüht und konkurrieren sehr stark untereinander. Natürlich liegt auch an der Columbia immer mehr Gewicht auf Computerdesign und dem parametrischen Entwerfen.
Mein Interesse in der Lehre gilt am ehesten im Entwickeln und Vermitteln eines kritisch- produktiven Blicks auf bestimmte kulturelle Phänomene – verbunden natürlich mit der Frage, was ihre Auswirkungen auf architektonisches Schaffen sind. Ich habe meine Studenten mal ein ganzes Semester lang mit der Farbe „Beige“ beschäftigt. Oder mit diesen bemerkenswerten 45-Grad-Winkeln der siebziger Jahre, die meiner Meinung nach den Weg für die heute so selbstverständlichen fließenden Übergänge zwischen Boden, Wand und Decke bereitet haben. Letzten Herbst haben wir uns mit der Inflation von „Future“ beschäftigt.

Im Internet habe ich den Satz gefunden: „Jürgen Mayer H. gestaltet S-Bahn-Waggons, sammelt Vordrucke und entwirft Bettwäsche.“ Zwei dieser Beschäftigungen liegen relativ nahe, aber die mittlere macht doch stutzig: Was um alles in der Welt bringt einen Menschen dazu, Vordrucke zu sammeln? Was ist das denn genau?


Das sind Datensicherungsmuster, also solche Mehrfachformulare, wie sie zum Beispiel bei Kurierdiensten verwendet werden. Wenn man etwas verschickt muss man ja vorne, wo die Adresse steht, auch den Wert angeben. Aber diese Information soll nicht für jeden sichtbar sein. Denjenigen, der es austrägt, geht es ja nichts an, wie teuer etwas ist, was er da in der Hand hat. Diese Formulare haben mehrere Schichten, und bei den unterschiedlichen Durchschlägen können die Muster, die immer ein Zahlen- oder Buchstaben-Wirrwarr sind, bestimmte Informationen verschleiern.

Wie sammelt man so was? Und vor allem: warum?

Ich hebe solche Vordrucke auf, wenn ich sie bekomme, habe aber auch schon gezielt nach ihnen gesucht. Inzwischen besitze ich über 300 verschiedene Typen. Ich habe mit Druckereien und dem deutschen Technikmuseum gesprochen, habe viel recherchiert, um über die Entstehungsgeschichte dieses Prinzips etwas heraus¬zu¬finden. Aber kaum jemand weiß wirklich etwas darüber. Diese Muster sind für mich als „strategisches Ornament“ interessant.

Was bedeutet das? Diese Muster sind auf Ihrer Website zu finden, auf Bettwäsche und in einer Installation für das MoMA in San Francisco. Es geht aber doch nicht nur um Dekor, also eine Alternative zu Blümchen- oder Karomustern?

Nein, das spannende an diesen Mustern ist ja, dass sie aus reiner Zweckmäßigkeit entstanden sind, aber voller hintergründiger Symbolik stecken: Es geht um Datenkontrolle, das Aufscheinen und Verschwinden von etwas. Bei einer Ausstellung in Chicago, das war schon vor zehn Jahren, da habe ich ein Gästebuch mit Datensicherungsmustern versehen und mit temperaturempfindlicher Farbe gearbeitet. Wer sich eintrug und was die Person schrieb war zunächst unsichtbar, trat aber durch Wärme, also etwa die Körperwärme einer Hand, aus den Mustern hervor und wurde lesbar. Ließ man die Seite los, verschwand die Schrift wieder – passend zum Kommen und Gehen der Gäste in der Galerie.




Sie leben in Berlin, bauen in Spanien und Dänemark, pendeln nach New York und kommen ursprünglich aus Winnenden bei Stuttgart. Sie können nahtlos von Englisch oder Hochdeutsch auf lupenreines Schwäbisch umschalten. Fangen Sie mit dem Begriff ‚Heimat’ etwas an?


Früher wäre mein erster Gedanke gewesen: ‚Beklemmung’. Heute sehe ich das weniger drastisch, aber es bleibt bei gemischten Gefühlen, ich würde sagen, das Wort steht am ehesten für ‚Verlust’. Winnenden ist klein und eng, ich wusste immer, dass ich mich da nicht ewig aufhalten und auch ganz sicher nicht wieder dorthin zurückkehren würde, außer natürlich zu Besuch. Inzwischen gibt es aber auch so eine gewisse Dankbarkeit in mir, weil es bestimmt ein guter Ort zum Aufwachsen war.

Man wird da mit dem Alter etwas milder...

Natürlich. Wenn man jung ist, meint man, gegen so etwas anrennen zu müssen – gegen so einen mittelständischen schwäbischen Kontext, den ich natürlich liebend gern gegen das hochintellektuelle Umfeld einer Akademikerfamilie in einer aufregenden Großstadt eingetauscht hätte. Aber zum Glück kapiert man ja irgendwann, warum man der geworden ist, der man ist. Wie viel Unterstützung man tatsächlich zuhause bekommen hat oder auch, dass einen gerade die Befreiung aus etwas, das anders vorgegeben scheint, besonders stark macht. Heute weiß ich das alles zu schätzen und bewundere umgekehrt die Offenheit und Lernfähigkeit meiner Eltern. Sie kommen zu meinen Ausstellungen, schauen sich meine Architektur an und setzen sich mit Dingen auseinander, die erst einmal auch völlig fremd für sie sind. Sie sagen immer, es sei eine Bereicherung für sie, mit so etwas „konfrontiert“ zu sein.




Übrigens habe ich als Student etwas sehr Heimatverbundenes für Winnenden getan, fällt mir gerade ein.

So? Was denn? Ein gebautes Frühwerk?


Nein, viel besser, eigentlich bin ich wirklich ein bisschen stolz darauf: Ich habe mit einem ziemlich vorlauten Brief den alten Güterbahnhof der Stadt vor dem Abriss gerettet, da ist heute das Feuerwehrmuseum drin. Vor einigen Jahren sollte aber ein neuer Omnibusbahnhof entstehen und der schöne, aber heruntergekommene Bahnhof aus Holz sollte weg. Ich habe zu der Zeit in Stuttgart studiert, von diesen Plänen erfahren und protestiert, weil es doch ein typisches Zeugnis der Infrastrukturentwicklung ist. Der Bürgermeister hat dann darauf reagiert: Ich solle nicht nur meckern, er wolle von mir den Beweis sehen, dass man so einen ZOB auch hinbekommt, wenn die alten Gebäude stehen bleiben. Also habe ich Entwürfe gemacht. Ich habe nie Geld dafür bekommen, aber darum ging’s mir damals ja auch gar nicht. Nachher ist ohnehin etwas ganz anderes realisiert worden. Aber der alte Bestand blieb erhalten. Wenn ich heute mit der S-Bahn ankomme, dann denke ich mir immer: Das war doch eigentlich ein ganz guter Beitrag für die Stadt.

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