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02.05.2019

Buchtipp: Transparente Bauten

X-Ray Architecture


In ihrem jüngst veröffentlichten Forschungsprojekt geht die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina dem Zusammenhang zwischen medizinischen Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts und der Entwicklung moderner Architektur nach. Die Ergebnisse fasst sie in der Publikation „X-Ray Architecture“ zusammen, die vor Kurzem im Verlag Lars Müller Publishers erschien. 

Schon Ende der 1980er Jahre beschäftigte sich die heutige Professorin für Architekturtheorie an der Princeton University erstmalig mit diesem Thema. Damals kam sie als Gastwissenschaftlerin an das New Yorker Institut für Geisteswissenschaften, wo sie unter anderem von Susan Sontags Thesen in „Krankheit als Metapher“ (1977) wie auch von deren interdisziplinärer Denkweise inspiriert wurde. Nach 100 Seiten brach sie ihr Forschungsvorhaben jedoch vorerst ab, denn das Projekt war für eine angehende Akademikerin im Bereich der damaligen Architekturtheorie noch zu interdisziplinär aufgestellt. Heute ist die Architekturforschung zumindest im angelsächsischen Bereich offener, ja sogar transdisziplinär ausgerichtet und ermutigt junge Wissenschaftler*innen zu derartigen fachübergreifenden Projekten.

Nun liegt Colominas Studie zum Einfluss des medizinischen Diskurses auf die moderne Architektursprache endlich in Gänze und in Buchform vor. Sie beginnt mit einem Rückgriff auf Vitruv, der schon im 1. Jahrhundert v. Chr. idealisierte Maßverhältnisse des menschlichen Körpers erarbeitete, auf deren Grundlage seit Jahrhunderten Gebäude konstruiert werden. Mit diesem Einstieg legt die Autorin den Grundstein für ihre Argumentation zur Entwicklung der Architektur in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die sie Worten wie „mager“ und „fit“ beschreibt, eigentlich Begrifflichkeiten aus dem Gesundheitsbereich.

Die Krankheit Tuberkulose und die von Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckten „X-Strahlen“, die deren Diagnose ermöglichten, führten um die Jahrhundertwende zu neuen Denkweisen bezüglich des menschlichen Körpers ebenso wie bezüglich der Beschaffenheit des Raumes. Dies wiederum wirkte sich direkt auf die gebaute Umwelt aus. Die Tatsache, dass unsichtbare Strahlen Objekte durchdringen und deren Inneres sichtbar machen, spiegele sich auch in der modernen Architektur wider, in der sich die klassische Beziehung zwischen innen und außen auf ähnliche Weise wie in einem Röntgenbild umkehre, so Colominas These. Als Beispiel führt sie Mies van der Rohes unrealisiertes Projekt in der Berliner Friedrichstraße (1921/22) an: ein Hochhaus mit offengelegtem Skelett.

In ihrem Buch argumentiert die Wissenschaftlerin, dass die sich damals schnell verbreitende Glasarchitektur mehr als nur eine neue Ästhetik war – sie könne vielmehr verstanden werden als „ein Symptom einer tief verwurzelten Designphilosophie, die aus dem medizinischen Diskurs stammt“. So, wie die Röntgenaufnahme das Innere des menschlichen Körpers dem öffentlichen Blick zugänglich mache, offenbare auch die moderne Architektur ihr Innenleben. Colomina stellt dies unter anderem am Beispiel von Philip Johnsons Glass House (1949) in New Canaan, Connecticut, und Mies’ 1949 entworfenem Wochenendhaus für Edith Farnsworth dar. Die erfolgreiche Ärztin aus Chicago verglich ihr Feriendomizil sogar selbst mit einem Röntgenbild und erklärte in einem Interview im Mai 1953 für das  Journal House Beautiful: „Es gibt bereits das Gerücht, dass es sich um ein Tuberkulose-Sanatorium handelt.“

Text: Katrin Schamun



X-Ray Architecture
Beatriz Colomina
200 Seiten
Englisch
Lars Müller, Zürich 2019
ISBN 978-3-03778-443-3
35 Euro


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Buchcover „X-Ray Architecture“ von Beatriz Colomina

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