Von Friederike Meyer
Nicht nur in Zürich und Berlin, sondern auch in München, der Stadt mit den höchsten Mieten in Deutschland, erleben Genossenschaften derzeit ein Revival. Allein in den letzten Jahren sind in München fünf neue hinzugekommen. Die Genossenschaft wagnis ist eine von ihnen, sie zählt inzwischen 1.600 Mitglieder und vermietet mehr als 400 Wohneinheiten. WagnisART ist ihr jüngstes Projekt. Geplant wurde es von bogevischs buero in Zusammenarbeit mit SHAG Schindler Hable Architekten, Bauchplan (alle München) und Auböck + Kárász Landschaftsarchitekten (Wien).
Die Wohnanlage, bestehend aus fünf Häusern mit 138 Wohneinheiten, ist Teil des DomagkPark im Nordosten von München. Nach einem städtebaulichen Plan von Ortner + Ortner sollen hier 1.700 Wohnungen für alle Einkommensschichten entstehen. Das Wagnisgrundstück hatte die Stadt explizit für Genossenschaften vorgesehen. Die namensgebende Idee des Wagnisprojekts resultiert aus der Geschichte des Areals: Die still gelegten Kasernen hatten sich über die Jahre in die größte Künstlerkolonie Europas verwandelt. Ein kleiner Teil davon ist erhalten geblieben, manche Künstler sind wagnis-Genossen geworden.
Die Anlage wirkt recht verspielt und passt so gar nicht ins Bild des ansonsten orthogonal durchgerechneten Münchner Wohnungsbaus. Die fünf Häuser auf polygonalem Grundriss bilden zwei Höfe und werden auf der dritten Ebene durch eine umlaufende Terrassenbrücken verbunden. Es sind allein die markanten Balkonbrüstungen, der einheitliche Putz und die wenigen Fensterformate, die alles zu einem Bild zusammenziehen. Dass wagnisART 2016 den Deutschen Städtebaupreis erhielt, liegt denn auch weniger an der Architektur als vielmehr am Programm. Ein Grundsatz der Genossenschaft wagnis ist es, Gemeinschaftseigentum wieder gesellschaftsfähig zu machen. Während der privat gemietete Wohnraum auf das Nötigste beschränkt bleibt, teilen sich die wagnis-Genossen Musikräume, einen großen Veranstaltungsraum, zwei Gemeinschaftsräume, Werkstatt, Nähstube, Sauna, Toberaum, Gästeapartments und ein Waschcafé. Und dann ist da noch die Terrasse, die in rund zehn Meter Höhe alle Häuser verbindet. Hier wachsen Kräuter und Blumen, stehen Liegestühle und Bierzeltbänke, hier fahren die Kinder Dreirad und Roller.
Die Stadt München unterstützt die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum durch ihr Programm „konzeptioneller Mietwohnungsbau“. Wird eine städtische Fläche für Wohnungen ausgeschrieben, werden im Kaufvertrag Bedingungen gestellt. Für jede Wohnungen bei wagnisART ist festgelegt, an welche Einkommensschicht sie vermietet werden darf: 30 Prozent gehen an Menschen mit einem Wohnberechtigungsschein, 40 Prozent an Menschen, die nach dem München-Modell gefördert werden, und 30 Prozent sind frei finanziert beziehungsweise bekommen keinen Zuschuss. Das München-Modell ist ein kommunales Programm der Stadt München, das Haushalte und Familien mit mittlerem Einkommen bei der Miete oder beim Kauf von Wohnungen unterstützt. Dennoch haben alle Wohnungen die gleiche Ausstattung. Neu, nicht nur bei wagnisART, sondern für ganz München sind die Clusterwohnungen. Sechs bis zehn Haushalte teilen sich eine ge- meinsame Wohnungstür sowie einen Gemeinschaftsbereich mit Küche und Wohnzimmer und haben zudem kleine individuelle Appartments mit Kochgelegenheit und Bad. Auf diese Weise will man Menschen im Alter vor der Einsamkeit bewahren oder Alleinerziehenden ein unterstützendes Umfeld ermöglichen.
Ein weiterer Grundsatz bei wagnis ist die Beteiligung der Bewohner am Planungsprozess. In einem Workshop loteten die Architekten von bogevischs buero mit Schuhkartons und Dachlatten zunächst das Verhältnis von Gemeinschaft zu Individuum aus. Mit einem Gestaltungsleitfaden verhinderten sie endlose Diskussionen um Fenstergrößen und andere Geschmacksfragen, bemühten sie sich mit größtmöglicher Transparenz, dem Vorwurf der Alibiveranstaltung zu entgehen.
Mit den Workshops zum Thema Clusterwohnung haben die Architekten schließlich Pionierarbeit geleistet. Einerseits gab es in München keine Vorbilder wie ein Cluster als geförderter Wohnungstyp funktionieren kann, andererseits wollte man in der Stadt keine falschen, also für die Stadt und künftige Bauvorhaben ungünstigen Präzendenzfälle schaffen. Ein richtiger Präzendenzfall hingegen, so viel ist sicher, ist wagnisART gelungen. Es ist ein gutes Modell für das Zusammenleben in der Stadt, vor allem für diejenigen, die mit vergleichsweise wenig Geld zurecht kommen müssen.
Fotos: Michael Heinrich, Julia Knop
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