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06.12.2017

Architekturgeschichte für LKW-Fahrer

Videostream, Tim Benton und eine Ausstellung am CCA


Von Luise Rellensmann

In der aktuellen Ausstellung am Canadian Center for Architecture (CCA) in Montreal laden Sofas und Röhrenfernseher die Besucher ein, sich entspannt zurück zu lehnen. Man kann eine 24-teilige Fernsehreihe aus den Siebziger- und Achtzigerjahren schauen. Es geht darin um Design und Architektur, genauer um die Architekturmoderne zwischen 1890 und 1939. Die Filmbeiträge strahlte die BBC damals im Rahmen des Telekolleg-Kurses A305 der Ende der Sechzigerjahre  gegründeten Fernuniversität Open University (OU) in Großbritannien aus.

Architekturgeschichte für alle – dieses radikale bildungspolitische Projekt ist Gegenstand der Ausstellung „University is now on air. Broadcasting modern architecture“, die noch bis zum 1. April in Montreal zu sehen ist und dann auf Reisen gehen wird. In Zeiten der Bildungskrise in Nordamerika und in Großbritannien liefert der Kurator Joaquim Moreno eine medienarchäolgische Schau, blickt zurück auf ein (bisher) beispielloses Unterfangen, das die Architekturbildung breiter Gesellschaftsschichten über das Massenmedium Fernsehen realisierte. Zudem ergänzte ein Radioprogramm, unter anderem moderiert von Pionieren der Moderne und der Modernegeschichte wie Berthold Lubetkin und Julius Posener, das Unterrichtsmaterial an der OU, aber auch dicke Textbücher, die frei Haus geliefert wurden, gehörten dazu.

Im Gegensatz zur klassischen Vorlesung gewährt die Filmreihe zur Architekturgeschichte Einblicke in die Umgebung und Innenräume der jeweiligen Projekte. Pädagogisch interessant startet sie mit einer Einführung ins Entwerfen: Unter dem Titel „What is Architecture? An Architect at Work“ erklärt der OU-Kunstgeschichtsprofessor und Architekt Geoffrey Baker, wie er sein eigenes Haus entwarf. Protagonist aller anderer Episoden der Filmreihe war der damals Anfang 30jährige Tim Benton. In Lederjacke, Schlaghose und dicker Hornbrille durchstreifte er die Ikonen der Moderne wie Le Corbusier’s Villa Savoy, Gropius’ Faguswerk oder Peter Behrens’ AEG Turbinenfabrik. 



Herr Benton, mit dem A305 Kurs an der OU haben sie in den Siebzigerjahren Architektur einem Massenpublikum vermittelt. Wäre ein ähnliches Projekt heute noch denkbar?

Tim Benton: In den späten Sechziger- und Siebzigerjahren profitierte das Hochschulsystem von den Modernisierungsbestrebungen der Labor Partei unter Harold Wilson, es gab staatliche Investitionen in Bildung. Die Open University wurde gegründet, die Zahl der Hochschulen verdoppelte sich. Zum Beispiel entstanden die University of East Anglia (UEA) in Norwich oder die University of Sussex in Brighton. Heute sind die Bedingungen ganz andere, nicht nur in der Medienlandschaft. Die britische Regierung hat dem Hochschulwesen im Bereich der Geisteswissenschaften gerade sämtliche Fördermittel gestrichen, die Idee des lebenslangen Lernens hat sie schon lange verraten. Wir steuern auf das amerikanische Modell zu, die Hochschulen verlangen immer höhere Gebühren. Heute studieren zwar 200.000 Menschen an der Open University, aber niemand mehr kostenlos. Dazu zählen viele Lehrer, die sich, finanziert von ihren Arbeitgebern weiter qualifizieren.  

Der Kurs A305 widmete sich der Architekturgeschichte von 1890 bis 1939. Warum?
Der Kurs fand in den Siebzigerjahren statt. Die Zeit der Moderne ging zu Ende, aber die Geschichte der Modernen Architektur war noch gar nicht richtig erzählt. Inzwischen gibt es Berge wissenschaftlicher Publikationen dazu. Heute würde man dieses Kapitel der Architekturgeschichte sicherlich anders unterrichten.

Warum haben Sie so viel in Deutschland gefilmt?
Deutschland und die Niederlande sind Geburtsorte der Modernen Architektur. Wir haben uns damals auch aus logistischen Gründen für Deutschland entschieden. Wir konnten dort viele Orte in kurzer Zeit aufnehmen. Gropius’ Faguswerke in Aalfeld, mehrere Gebäude in Berlin wie Peter Behrens AEG Turbinenfabrik, die Wohnhäuser von Scharoun oder die Berliner Siedlungen. Den Einsteinturm von Erich Mendelsohn haben wir allerdings komplett im Studio an einem großen Modell abgedreht.  

Wenn Sie heute einen ähnlichen Kurs auflegen könnten, was würden Sie thematisieren? 
Ich würde Architektur aus einem soziologischen Blickwinkel betrachten, nach dem Erleben der gebauten Umwelt fragen. Das Interessante an der Open University waren immer auch ihre Studenten, die mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Sichtweisen das Studium aufnahmen.

Was waren das für Leute? 
Die Open University bot die Chance des zweiten Bildungswegs. Dass in erster Linie Hausfrauen unser Publikum waren, ist ein Vorurteil. Wir unterrichteten die ganze Familie. Bei uns studierten Bohrinsel-Arbeiter und LKW Fahrer, verurteilte Kriminelle, die im Gefängnis saßen. Rund 750 schlossen den Kurs zur Architekturgeschichte damals ab, eine hohe Quote im Vergleich mit anderen Kursen der OU.

Die Ausstellung soll ab Sommer 2018 im britischen Milton Keynes, dem Sitz der OU, gezeigt werden.

Ich würde mir eher einen Ort wie das Barbican Center in London wünschen, der ein großes allgemeines Publikum anzieht und so eher eine bildungspolitische Debatte um Architekturvermittlung anfachen kann. Es ist wunderbar, dass das CCA die Ausstellung durch ein Online-Angebot und öffentliche Diskussionen ergänzt. Ich bin gespannt auf die Reichweite der Ausstellung.


Video:




Zum Thema:

Ausstellung: bis 1. April 2018 
Ort: Canadian Center for Architecture, 1920 Baile St, Montreal

Bis Ende März stellt das CCA wöchentlich eine der insgesamt 24 Folgen online, zum Beispiel am 8.12. die Folge zum Faguswerk und zur Turbinenfabrik.
https://www.cca.qc.ca


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Das Grafikdesign der Ausstellung stammt vom Berliner Büro Something Fantastic, das Ausstellungsdesign von APPARATA (London/Basel)

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Tim Benton unterwegs in Berlin: Filmstill aus der A305-Folge „Industrial Architecture: AEG and Fagus Factories“

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Tim Benton bei der Ausstellungseröffnung am CCA

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Student der OU vor dem Fernseher

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