Zwar steht einzig Lina Bo Bardis Name auf dem Titel dieses Buches, doch erzählt uns der Autor und Schweizer Architekt Richard Zemp hier vor allem die Geschichte von drei ungleich unbekannteren brasilianischen Architekten. Denn es geht um Sérgio Ferro, Rodrigo Lefèvre und Flávio Império, die später den Namen Grupo Arquitetura Nova und damit eine Verbindung zum zeitgenössischen Cinema Novo des brasilianischen Kinos erhielten, obwohl sie sich selbst nie so genannt hatten.
Ferro, Lefèvre und Império hatten in den 1950er-Jahren in São Paulo bei João Batista Vilanova Artigas studiert und noch währenddessen ihr Büro gegründet. Arbeit gab es in Brasilien genug und so kamen sie auch ohne Diplom an einen Großauftrag für den Entwurf eines Gebäudeensembles in Brasília. Die Begegnung mit den realen Arbeitsbedingungen, unter denen die neue Hauptstadt im brasilianischen Hinterland entstand, schreibt Zemp, sollte die Auffassung der drei jungen, marxistisch beeinflussten Architekten gründlich verändern. Das Bild des neuen, modernen Brasiliens, das für Ferro immer in den „perfekten, weißen, reinsten“ Zeichnungen Lucio Costas und Oscar Niemeyers dargestellt wurde, musste vor Ort von einer „Masse bettelarmer und ausgebeuteter Menschen mit gewaltsam unterdrückten Streiks, Krankheiten und vielen Todesfällen“ umgesetzt werden. Dieses Missverhältnis zwischen dem „mit fortschrittlichen Absichten beladenen Traum der Architekten“ und der realen Ausbeutung der Arbeiter wird für Ferro, Lefèvre und Império zum Ausgangspunkt für die Suche nach einer ganz anderen Art, Architektur umzusetzen.
Während ihrer jahrzehntelangen Arbeit entwickelten die drei in ihren Essays und ihren realisierten Projekte eine Art kollektive Baupraxis, bei der die Architekten mit den Bauarbeitern, Fachplanern und Bauherren auf der Baustelle gemeinsam Möglichkeiten diskutieren und Entscheidungen treffen. So entwickelten sie auch die Idee einer „Atelier-Baustelle“, auf der zuerst ein großer Mauerwerksbogen als Dach konstruiert wurde. Unter diesem Dach konnte die weitere Arbeit konkret besprochen und gemeinsam ausgeführt werden. Das Bauwerk wurde so zum Ausdruck eines kollektiven Schaffens, nicht nur zum Werk eines Einzelnen.
Hier findet Zemp dann auch die Verbindung zu den Arbeiten von Lina Bo Bardi. Diese wollte in vielen ihrer Projekte ebenfalls das handwerkliche Können lokaler Handwerker integrieren und nahm deswegen oft nur wenige, grobe Vorplanungen vor, damit den auf der Baustelle diskutierten Lösungen und Veränderungen noch genügend Platz eingeräumt wird. Bo Bardi kannte Império persönlich, ebenso waren ihr die Texte der Gruppe vertraut, durch die sie selbst einen Schub für die Repositionierung der eigenen Arbeit bekam.
Zemp untersucht in seinem Buch vor allem zwei Projekte ausführlich: die Casa Dino Zammataro in São Paulo von Ferro, Lefévre und Império sowie die Igreja do Espirito Santo do Cerrado in Uberlândia von Bo Bardi. In seinen kurzen, aber liebevoll detail- und kontextreichen Texten lässt sich den beiden Bauprozessen gut folgen. Hinzu kommen die Aufnahmen des brasilianischen Fotografen Fernando Stankuns, der 2019 die Gebäude in ihrem heutigen Zustand mit scharfem Blick für die Details aufnahm. Es ist erstaunlich, wie lebhaft die Auseinandersetzungen der vier Architekt*innen mit den Arbeitsbedingungen auf den brasilianischen Baustellen in diesem schmalen, aber klugen Buch dargestellt werden. So muss Zemp zum Schluss lediglich ein atemberaubend kurzes Fazit von anderthalb Seiten ziehen. Er beschreibt darin, wie sich das Gelesene auch mit heutigen Baustellen der zeitgenössischen Architekturproduktion verknüpfen ließe. Das haben wir Leser*innen auch schon auf den 120 Seiten zuvor genau verstanden.
Text: Florian Heilmeyer
Bauen als freie Arbeit. Lina Bo Bardi und die Grupo Arquitetura Nova. Tendenzen der brasilianischen Architektur 1961–1982
Richard Zemp
144 Seiten
DOM Publishers, Berlin 2021
ISBN 978-3-86922-639-2
28 Euro