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01.07.2022

Drei Jahrzehnte Bauen in der Krise

Interview mit Shigeru Ban


In Folge des verheerenden Erdbebens in Kobe gründete Shigeru Ban 1995 das Voluntary Architects’ Network VAN, das weltweit in der Krisenhilfe aktiv ist und temporäre Notunterkünfte errichtet. Die je nach Bedarf unterschiedlichen Konstruktionen bestehen aus Kartonröhren, deren globale Verfügbarkeit und Rezyklierbarkeit für Ban entscheidend sind. Sara Lusic-Alavanja sprach mit Shigeru Ban über die aktuelle Verantwortung der Architektur und seine Sicht auf Krisen.

Herr Ban, durch den Krieg in der Ukraine haben mittlerweile fast fünf Millionen Menschen das Land verlassen müssen, mehr als sieben Millionen sind innerhalb der Ukraine aus unmittelbaren Kriegsgebieten geflohen. In vielen Fällen kommen die Geflüchteten in Notunterkünften unter. Einige davon haben Sie mit dem Voluntary Architects’ Network in Polen und der Ukraine aufgebaut. Worauf kommt es Ihnen an?

Privatsphäre. Ich denke, Privatsphäre ist das wichtigste Grundrecht des Menschen. Selbst Menschen, die eine Nacht in der Turnhalle übernachten, können sich ohne Privatsphäre nicht entspannen und nicht gut schlafen. Vor allem wenn sie aus ihrem eigenen Land evakuiert wurden und durch die ganze Welt reisen, sind sie sehr angespannt und müde. Ich habe schon oft erlebt, dass Menschen bei Erdbeben oder Überschwemmungen evakuiert wurden und monatelang in provisorischen Unterkünften blieben. Aktuell bleiben die aus der Ukraine geflüchteten Personen häufig nur ein paar Tage in Notunterkünften, bevor sie in eine andere Stadt umziehen. Aber selbst für ein paar Tage ist es sehr wichtig, ihnen Privatsphäre zu bieten. Was ich tue, ist stets das Gleiche, aber die Situation ändert sich.

Wenn man die Arbeit des
Voluntary Architects’ Networks über die Jahrzehnte verfolgt, scheint sie unweigerlich auch die Kontinuität der Krisen aufzuzeigen… 

… und es werden immer mehr!

Können Sie etwas benennen, dass sich in all den Jahren für Ihre Arbeit zum Positiven oder Negativen verändert hat?

Als ich 1994 damit anfing, interessierte sich niemand für diese Art von Aktivitäten. Heute ist das ganz anders. Wann immer etwas passiert, kontaktiere ich meist Architekt*innen oder Professor*inen an Architekturschulen, die sich in dem jeweiligen Krisengebiet befinden. Da meine Tätigkeit mittlerweile in der Welt bekannt ist, unterstützen sie uns sofort. Es ist einfach geworden, lokale Partner zu finden. Außerdem interessieren sich immer mehr Studierende für solche sozialen Aktivitäten. Normalerweise arbeiten wir als Architekt*innen für privilegierte Menschen oder Projektentwickler, aber auch diese interessieren sich nun dafür, was sie sozial tun können.

Sie haben erwähnt, dass schlechte Bausubstanz Naturkatastrophen verstärken kann. Was müssen Baumaterialien leisten, um nachhaltig zu sein?

Nun, zunächst einmal möchte ich das Wort Nachhaltigkeit nicht verwenden. Heutzutage wird es kommerziell gebraucht. Jeder benutzt es, ohne wirklich über die Definition von Nachhaltigkeit nachzudenken. Ich habe 1985 damit begonnen, recyceltes Material zu verwenden, als die Leute noch nicht darüber sprachen, dass Produkte ein Umweltproblem darstellen. Ich will einfach kein Material verschwenden. Das ist der Grundgedanke meines Handelns. Es ist sehr wichtig, an die Umwelt zu denken, aber wir können nicht sagen, welche Materialien gut oder schlecht sind, denn es kommt vor allem auf ihre angemessene Nutzung an. Wenn ein Gebäude aus rein kommerziellen Gründen gebaut wurde, kann es vom nächsten Projektentwickler abgebrochen werden, um ein neues zu bauen. Auf diese Weise wird sogar ein Bau aus Beton sehr temporär. Die temporären Papiergebäude, die ich gebaut habe, wurden in vielen Fällen zu permanenten Strukturen. Wir müssen also das Material angemessen nutzen.

Diese kurze Nutzungsdauer von Gebäuden findet sich auch in Städten wie Tokio wieder.

Leider ist die Situation in Japan wegen der Erdbeben so besonders. Wegen der Erdbebengefahr haben wir in Japan inzwischen strengere Bauvorschriften. Es ist teurer, die alten Gebäude zu verstärken, damit sie den neuen Vorschriften entsprechen, weshalb leider viele von ihnen abgerissen werden müssen. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass wir die alten Gebäude nicht wirklich erhalten können. Sobald man renovieren will, muss man die neuen Bauvorschriften einhalten, was wiederum sehr teuer ist.

Welchen Beitrag können Architekt*innen für das zeitgemäße Bauen leisten?

Sie müssen neue Ideen einbringen, das ist alles. Manchmal wird das akzeptiert, manchmal nicht. Heute war ich beispielsweise am ehemaligen Flughafen Tegel, um unser Paper-Partition-System vorzustellen. Weil die Verantwortlichen für die Unterbringung von Geflüchteten vor Ort aktuell ein teures Trennwandsystem gemietet haben, denken sie jetzt über eine neue Option nach, um Geld zu sparen und umweltfreundlicher zu werden – ich wollte das Wort ja nicht benutzen!

Sie wurden kürzlich zum Botschafter für das Neue Europäische Bauhaus ernannt. Um an dessen Gründungsidee anzuknüpfen: Was können Architekt*innen in Krisensituationen bewirken?

Das Neue Europäische Bauhaus war sehr hilfreich in der aktuellen Situation in der Ukraine. Aber wissen Sie, es sind nicht nur Architekt*innen. Verschiedene Berufe haben unterschiedliche Aufgaben in der Krise zu erfüllen. Selbst Architekt*innen haben verschiedene Rollen. Als die Krise in der Ukraine begann, schickte ich meine Erfahrungen mit der Herstellung von Trennwänden aus Papier an einen polnischen Kollegen am Neuen Europäischen Bauhaus – an Hubert Trammer. Er dachte, dass dies für die Situation der ukrainischen Flüchtlinge sehr nützlich sei und nahm sofort Kontakt zu Bürgermeistern auf und organisierte das ganze Projekt. Das war unglaublich. Jerzy Latka, ein ehemaliger polnischer Student von mir, versammelte seine Studierenden für den Aufbau der Notunterkünfte. Deshalb verlief in Polen alles so gut und schnell. Meine Kolleginnen am Neuen Europäischen Bauhaus in der Slowakei – Mária Benacková Rišková und Lubica Šimkovicová – finden ebenfalls gerade Möglichkeiten, daran anzuknüpfen.

Also sind die Netzwerke dieser Initiative entscheidend?

Ja, die Netzwerke des Neuen Europäischen Bauhaus! Vielleicht war das die erste Aktion, die von dieser Organisation durchgeführt wurde.


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Mit dem Voluntary Architects’ Network VAN ist Shigeru Ban seit Mitte der 1990er Jahre in der Krisenhilfe aktiv.

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Nach der Überflutung der Insel Kyushu im Süden Japans, die sich 2020 ereignete, stellten Voluntary Architects’ Network und Shigeru Ban Architects in dem Verwaltungssitz Kumamoto Notunterkünfte bereit.

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In Paris wurden gemeinsam mit Studierenden der École nationale supérieure d'architecture de Versailles Notunterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine errichtet.

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Shigeru Ban während des Interviews am 4. Mai in der Akademie der Künste, Berlin

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