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18.01.2023

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Buchtipp: Altstadterneuerung in Diktaturen

Ein städtebauliches Erbe Europas


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Altstadterneuerung war ein großes Thema in der ersten Hälfte das 20. Jahrhunderts. Hinter dem Begriff verbergen sich unterschiedliche Strategien. Oft ging es jedoch schlicht und ergreifend um den Abriss alter, dicht gedrängter Bausubstanz unter den modernistischen Vorzeichen von Ordnung, Hygiene und Verkehrsoptimierung. In den diktatorischen Regimes Europas war das ähnlich, zugleich spielte aber „die Bewahrung, ja oft kultische Zurschaustellung von geschichtlichen Zeugnissen vergangener Größe“ eine entscheidende Rolle.

Das von Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra herausgegebene Buch Altstadterneuerung in Diktaturen. Ein städtebauliches Erbe Europas bietet auf kompakten 200 Seiten einen Überblick über die Geschichte der Altstadterneuerung in totalitären Regimes während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Analysiert werden Projekte in Italien (Rom, Brescia, Bologna, Neapel), der Sowjetunion (Moskau), Deutschland (Berlin), Portugal (Lissabon, Évora, Óbidos) und Spanien (Madrid, Toledo, Barcelona, Saragossa, Santillana del Mar). Das Buch basiert auf jahrelangen Forschungen zum Thema, zahlreiche Ergebnisse wurden bereits auch an anderer Stelle veröffentlicht.

Zentrum des italienische Faschismus und Bühne Mussolinis war Rom. Die dortige Stadterneuerung wurde von der Idee der Wiederbelebung des antiken Rom geleitet. Die Bauten vom Anfang des Imperiums sollten mit den Bauten des faschistischen Imperiums verknüpft werden. Eine der wichtigsten städtebaulichen Inszenierung der Größe Mussolinis war die Schaffung der Via Dell’Imperio, die den Palazzo Venezia, Hauptort der faschistischen Herrschaft Mussolinis, mit dem Kolosseum verbindet.

Die Stadterneuerung in Moskau, seit 1918 Hauptstadt der Sowjetunion, folgte einem anderen Prinzip. Beim Schaufenster des sozialistischen Staates setzten die Planer*innen auf neue monumentale Bebauungen: Verdopplung der Fläche des Roten Platzes, radikale Aufweitung der Hauptstraßen, Neugestaltung der Magistralen, Plätze und Uferzonen. Projektierter, aber unrealisierter Prachtbau war der Sowjetpalast – ein über 400 Meter hoher Turmbau, bekrönt mit einer 80 Meter hohen Lenin-Statue.

In Berlin herrschte wiederum eine ganz andere Ausgangslage. Die Altstadt und die gesamte historische Mitte galten als wenig repräsentativer Ort. Aufgrund dessen wurde die bemerkenswerte Entscheidung getroffen, ein völlig neues Zentrum außerhalb der historischen Mitte zu errichten. Unter der Leitung Albert Speers sollte dieses entlang einer gigantischen Nord-Süd-Achse mit Monumentalbauten entstehen. Um an die vielen notwendigen Altstadtgrundstücke zu kommen, wurde schon früh die Vertreibung von Bürger*innen jüdischer Herkunft eingeleitet. Diese Vorgänge wurden erst 2013 im Rahmen der Ausstellung „Geraubte Mitte“ erhellt.

Die Entscheidungen für die Altstadterneuerungen in Portugal während Salazars Regime wurden von der heroisierten Geschichte des Landes geprägt. Lissabon führte umfangreiche Kahlschlagprogramme in den ältesten Teilen der Stadt durch. Allerdings blieb die Altstadterneuerung hier sehr fragmentarisch. Die Neugestaltung Portugals diente auch touristischen Zwecken. Die rekonstruierte Burg von Lissabon, das Kastell St. Georg, zeugt beispielhaft von dieser Absicht.

Die Altstadt Madrids blieb in Francos Spanien vom Kahlschlag verschont. Grund dafür war nicht zuletzt die sehr akute Wohnungsnot. Die mittelgroßen Städte spielten eine wichtigere Rolle für das gesellschaftspolitische Programm des neuen Staates. Eine Sonderrolle kam der Altstadt Barcelonas zu, wo das Gebiet um die Kathedrale herum zu einem „gotischen Viertel“ umgebaut werden sollte.

Einen wichtigen Aspekt der Altstadterneuerung in den europäischen Diktaturen bildeten der zentralstaatliche Zugriff sowie die Anwendung systematischer Methodiken, die eine wirksame Erneuerung erst ermöglichten. Letztlich betrafen die Altstadterneuerungen nie nur Gebäude und öffentliche Räume, sondern immer auch die sozialen Strukturen. Die Beseitigung der „Elendsviertel“ ging Hand in Hand mit der Verdrängung von unerwünschten ärmeren Milieus. In Deutschland kam die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung hinzu.

Text: Ivana Sidjimovska

Altstadterneuerung in Diktaturen. Ein städtebauliches Erbe Europas
Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra (Hg.)
192 Seiten
DOM publishers, Berlin 2021
ISBN 978-3-86922-005-5
68 Euro


 
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