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26.10.2020

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Schwebe wieder, Hyparschale!

Baustellenbesuch in Magdeburg bei Ulrich Müther und gmp


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In Magdeburg wird derzeit die Messehalle des Schalenbaumeisters Ulrich Müther saniert und umgebaut. Das planende Büro gmp · Architekten von Gerkan, Marg und Partner wendet dabei erstmalig ein spezielles Verfahren mit Carbonfaserbeton an, das die erstaunlich leichte Figur erhält und gleichzeitig die Stabilität verbessert. Trotzdem müssen auch Kompromisse gefunden werden. Ein Besuch Anfang Oktober.

Von Florian Heilmeyer


Seit dem Abriss der „Großgaststätte Ahornblatt“ in Berlin im Jahr 2000 ist die Hyparschale in Magdeburg das größte noch erhaltene Schalendach des legendären Bauingenieurs Ulrich Müther. Allerdings wäre auch dieses Dach beinahe entsorgt worden: 1997 wurde die Magdeburger Messehalle wegen schwerwiegender Schäden am Dach baupolizeilich gesperrt. Ein Abrissantrag der Stadt konnte durch Gutachten verhindert werden. Nachdem die Hyparschale 1998 unter Denkmalschutz gestellt wurde, stritt man um mögliche Umnutzungsszenarien durch private Interessenten. 2017 entschied die Stadt, Sanierung und Umbau für 17 Millionen Euro selbst in die Hand zu nehmen.

Die 1969 eröffnete Hyparschale im Rotehornpark stellt in vielerlei Hinsicht ein Paradebeispiel für die gekrümmten Dächer des DDR-Bauingenieurs Ulrich Müther (1934–2007) dar. Mit kühnem Schwung überspannt das Dach eine Grundfläche von 48 x 48 Metern. Dafür konstruierte Müther ein Tragwerk aus vier gleichfalls quadratischen, jeweils zweifach gebogenen Dachflächen. Diese hyperbolen Paraboloide sind, wenn man will, das „Markenzeichen“ von Müthers Konstruktionen. Zwischen den vier Flächen entsteht eine zum Zentrum immer größer, bis auf vier Meter aufklaffende Fuge, die Müther als Lichtband betonte und mit Glasbausteinen füllte. Aufeinander treffen die vier Teilflächen jeweils mittig über den Außenwänden, wo die Knotenpunkte auf einer Stahlbetonstütze (je 100 x 50 Zentimeter) liegen und in zwei kräftige, nach außen abstützende Diagonalpfeiler (je 60 x 90 Zentimeter) übergehen. Das erinnert an eine Zeltkonstruktion, gibt dem Gebäude aber ob der kräftigen Dimensionen dennoch eine irgendwie gedrungene Form. Ausgeglichen wird die deutlich sichtbare Kraft in dieser Verankerung jedoch von einem besonders zarten Dachrand: Nur sieben Zentimeter dünn ist die allseits über die Außenwände ragende Hülle.

Weil die Fundamente der acht kräftigen Diagonalstützen über unterirdische Zugbänder aus Spannbeton verbunden sind, ist die Konstruktion selbsttragend. So kann die Fassade aus einem Raster schmaler Stahlprofile bestehen und ansonsten aus viel Glas. Um die Kosten zu reduzieren, verwendete man 1969 transluzentes Industrieglas, was viel Licht hereinließ, aber keine Durchsichtigkeit zum Außenraum bot. Die Glasbausteine im Dach wiederum erwiesen sich rasch als Schwachstelle, durch die Wasser ins Innere tropfte. Pragmatisch wurden die Oberlichter schon bald nach der Eröffnung mit Teerpappe vollständig abgedichtet. Was Müther zu dieser fundamentalen Änderung sagte, ist nicht überliefert.

Von außen sieht die Hyparschale im Jahr 2020 wenig beeindruckend aus. Das liegt nicht nur am verwilderten Umfeld. Obwohl es kein kleines Haus ist, wirken die kräftigen Knotenpunkte allzu schwer, das Gebäude dadurch seltsam gestaucht. Umso überraschender gestalten sich das Passieren der die dünnen Fassade und der Eintritt in die enorme Halle. Der 2.300 Quadratmeter große, stützenfreie Raum unter dem geschwungenen Dach ist sogar im Gerüstwald beeindruckend. Unter dem Ringanker in der Mitte misst die Halle zwölf Meter Höhe, dann schwingt das Dach zu den Außenecken auf fast 15 Meter. Von innen wirkt die Konstruktion tatsächlich leicht wie ein Zelt oder ein sehr großes Taschentuch. Die Lichtfugen, die auf das Zentrum zusteuern, machen die spektakuläre Konstruktion geradezu unglaubwürdig. So erklären sich die kräftigen Außenstützen, die von den Mühen erzählen, die diese innere Leichtigkeit erfordert.

Die Leichtigkeit und Transparenz in Müthers‘ Sinne und mit neuester Technik zu bewahren oder wiederherzustellen, sei das oberste Ziel der Sanierung, sagt Sophie von Mansberg. Sie arbeitet als Projektleiterin im Berliner Büro von gmp, die sich 2017 im städtischen VgV-Verfahren durchgesetzt hatten. Im Mittelpunkt stehen dabei die vier dünnen, gebogenen Dachsegmente. Die stellenweise offen liegende Stahlbewehrung ist durch Korrosion stark angegriffen. Dies war auch der Hauptgrund für die baupolizeiliche Sperrung 1997.

Derzeit wird der Beton des Dachs innen wie außen millimeterweise abgestrahlt und die Flächen dabei unwesentlich begradigt. Dann wird eine dünne Schicht eines Feinbetons aufgespritzt, eine Gittermatte aus Carbonfasern aufgelegt und im Anschluss erneut verspritzt. So entsteht direkt auf der alten Dachhaut beidseitig eine bis zu zehn Millimeter dicke, neue Schicht aus korrosionsbeständigem Carbonbeton. Die Bemessung und Planung des Carbonfaserverfahrens wurde von der Carbocon Dresden gemeinsam mit dem Institut für Massivbau der TU Dresden entwickelt und für dieses Projekt im Einzelfall geprüft und freigegeben. Die allgemeine Statik zur Sanierung der Dachschale und zum neuen Entwurf stammt von Rühle, Jentzsch und Partner, Dresden.

„Im Grunde arbeiten wir wie zu Müthers Zeiten“, sagt von Mansberg, nur dass Müther eben noch kein Carbon zur Verfügung stand. Je nach Feinheit des Gewebes variiert die Tragfähigkeit und Verformbarkeit der Carbonmatten. Das ergibt eine besonders filigrane und stabile Konstruktion, mit der die Tragkraft des Dachs auf das Anderthalbfache erhöht wird, ohne die Dimensionen zu ändern. Man darf durchaus spekulieren, dass Müther an dieser neuen Technik sein Gefallen gefunden hätte.

„Die vier separaten Dachsegmente erlauben uns dabei einen ziemlich optimalen Bauablauf“, so von Mansberg. Während ein Quadrant saniert wird, kann der nächste vorbereitet werden. Derzeit ist fast Halbzeit: Ein Quadrant ist fertig, einer in der Vorbereitung, zwei sind noch in ihrem beeindruckenden Verfallsstadium zu bewundern – inklusive zweier junger Birken, die es sich auf Müthers Schale gemütlich gemacht haben. Die Fugen zwischen den vier Dächern werden jetzt mit transparenten Glasscheiben versehen. Ebenso wird das alte Industrieglas aus den Fassaden entfernt und durch Klarglasscheiben ersetzt, die Stahlstreben bleiben hingegen bewahrt. Innen wird ein textiles Sonnenschutzsystem installiert, dessen Jalousienkästen verborgen hinter dem neuen Sockel aus Betonfertigteilen liegt. Darunter wird eine Wanne aus WU-Beton gesetzt, um den Hochwasserschutz in direkter Nähe zur Elbe zu verbessern. Zuletzt stand die Hyparschale im Juni 2013 vollständig unter Wasser.

Der Innenraum wird nach den Entwürfen von gmp mit dem Einbau von vier kleinen Räumen in den Gebäudeecken völlig neu sortiert. Dies ist die Reaktion der Architekt*innen auf den Wunsch der Stadt, die Messehalle künftig in kleinen, autonomen Einheiten flexibler nutzen zu können. „Für uns stellte das die Frage, wie wir Müthers wunderbare Skulptur bewahren und gleichzeitig die Wünsche der neuen Nutzung erfüllen können“, so von Mansberg. Also werden Raumboxen von 14,90 x 14,90 Meter in die vier Ecken gesetzt, was Müthers Grundordnung des Quadrates aufgreift. Durch diese Einbauten wird der Eindruck des weiten Daches gewiss geschmälert. Zwar bleiben dazwischen weite, offene Räume – mit Drehschotten und silbergrauen Vorhängen teilbar –, über denen Müthers geschwungene Dachskulptur präsent bleibt. Gleichzeitig aber wird man von keinem Punkt im Erdgeschoss mehr die gesamte Dachform erfassen können.

Dafür aber machen gmp die Dächer dieser Veranstaltungsräume begehbar und verbinden sie über vier Brücken. Auf dieser Ebene, 5,68 Meter über dem neuen Fertigfußboden, wird die Weite des stützenfreien Raumes unter dem geschwungenen Dach erfahrbar bleiben. Die Transparenz der neuen Glasfassade wird den Raum gleichzeitig mehr denn je nach außen öffnen: So werden der Park und die Nachbarn – die schwere Hubbrücke über die Elbe im Westen, das MDR-Funkhaus im Norden und die fantastische Backstein-Stadthalle von Johannes Göderitz im Süden – zu wichtigen Orientierungspunkten auch im Inneren. In Berlin wird ja zur Zeit viel diskutiert, wie Karl Friedrich Schinkel wohl mit dem geplanten Wiederaufbau der Bauakademie umgegangen wäre – in Magdeburg darf man ruhig annehmen, dass Müther trotz der neuen Kleinteiligkeit im Erdgeschoss mit dieser Sanierung durchaus zufrieden gewesen wäre. 2022 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein.

Fotos: Marcus Bredt, Florian Torabi


Zum Thema:

Anmerkung der Redaktion: Zur Vollständigkeit der Beteiligten Planer und Ingenieure wurde folgende Angabe im Text ergänzt: „Die Bemessung und Planung des Carbonfaserverfahrens wurde von der Carbocon Dresden gemeinsam mit dem Institut für Massivbau der TU Dresden entwickelt und für dieses Projekt im Einzelfall geprüft und freigegeben. Die allgemeine Statik zur Sanierung der Dachschale und zum neuen Entwurf stammt von Rühle, Jentzsch und Partner, Dresden“


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Kommentare

8

R. M. Fischer | 27.10.2020 14:10 Uhr

wunderbares Ingenierbauwerk

voll toll ! ? !
Auf jeden Fall finde ich, ist es das von der Stadt, die in den Erhalt des wunderbaren Ingenieurbauwerks investiert.
Ein wenig schwer tue ich mich mit dem damit verbundenen Verlust des industriellen Charakters speziell des großräumlichen und des Industrieglases (die feinen Streifen !) die das Dach mit hochgehoben haben). Für kleinräumliche mögliche Nutzungen hatte ich spontan an reingestellte "Container" o. ä. gedacht, so das das Dach im Innenraum erlebbar geblieben wäre.



7

STPH | 27.10.2020 08:54 Uhr

...

Im Zeitalter von Corona und Webinar hat solche Vermassungsarchitektur für Gemeinschafserlebnisse etwas gestriges, bizarres, überwundenes, wie alte Bahnhofshallen, wo ja auch jeder nur von A nach B will. Wo selbst Schulklassenverbände als gestrige Disziplinierungen aufgelöst werden. Aber sinnentleerte Architekturen bieten immer Raum für Neues.

6

Johannes | 27.10.2020 08:18 Uhr

Glückwunsch Magdeburg

Ich möchte mich Herrn Schoppe anschließen. Es ist ein wohltuender Glücksfall, dass sich die Stadt hier gegen den eigenen Abrissbeschluss und gegen offenbar ungenügende Konzeptvorstellungen von privaten Investoren (die das Gebäude vermutlich noch viel mehr entstellt hätten) entschlossen hat, mit eigenen Mitteln einen Saal von solch historischer Bedeutung wieder In Schuß zu bringen. Sehr schön, sehr mutig, eine sehr gute Entscheidung. Magdebugr ist wieder auf dem Weg zu einer "Stadt des Neuen Bauwillens" wie in den 1920er-Jahren! Und dahinter steckt übrigens maßgeblich die 17%-SPD mit Bürgermeister Trümper.

5

Pekingmensch | 27.10.2020 07:53 Uhr

Rote Fassade

Als kleines Kind bin ich dort ab und zu mal zu Ausstellungen gegangen, wobei ich zugegebenermassen damals dem spektakulaeren Tragwerk wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Neben der Hyparschale standen noch einige konventionelle Ausstellungshallen und ein langer Gang fuehrte dann von dort in die Hyparschalenhalle (siehe Bild 41).

Ich erinnere mich, dass die vertikalen Streben der Aussenfassade (blass-)rot angestrichen waren. Auf den Bildern 12 und 19 kann man es noch erahnen. Beim aktuellen Umbau scheint diese Farbigkeit der Fassade abhanden gekommen zu sein. Warum eigentlich?

4

Peck | 26.10.2020 22:17 Uhr

Nicht nur Magdeburg

Was für ein Glück, dass die Stadt Magdeburg rechtzeitig den Wert dieses beeindruckenden Raums und Tragwerks erkannte und dazu eine passende Nutzung fand.

Das brandenburgische Templin hat sich bereits 2018 zur Rettung seiner Müther'schen Hyparschale entschlossen, auch wenn sie nur ein Viertel so groß ist wie die in Magdeburg. Seit Anfang 2019 kann man das instandgesetzte Betondach und die neue Glasfassade bewundern - und auch den großartigen Innenraum. Noch, denn eine neue Nutzung lässt auf sich warten.

3

Hinrich Schoppe | 26.10.2020 17:53 Uhr

Durchhalten!

Lange genug hat die Schale durchgehalten. Vor einigen Jahren noch wäre sie sang- und klanglos verschwunden. Ein großes Lob und Dank der Stadt, die dieses Wagnis auf sich genommen hat.
Und gut, sie stand keiner Verwertung direkt im Weg wie ihrer "Schwester " in Berlin, die letzten Endes die Stadtentwicklung zu Fall gebracht hat. Aber das ist ein anderes Thema, wer sich damit schmücken darf....
Hier ist es immerhin gelungen. Natürlich auch Dank der Carbontechnik, keine Frage.
Die Einbauten sind funktional gewiss erforderlich, aber räumlich alles andere als ein Gewinn.
Kleiner wäre größer gewesen.
Hat man geprüft, die Dinger einzugraben? OK, fette Fundamente, Spannanker, Hochwasser...
Aber dafür beauftragt man ja eigentlich ein Büro wie gmp, um solche Kleinigkeiten zu lösen, oder?

2

Giovanni Elbiar | 26.10.2020 16:00 Uhr

Denkmalschutz

Bei der Innenraumperpektive sieht man leider wie stark die Einbauten den Raum (Zer)stören.

1

Nicole | 26.10.2020 15:56 Uhr

Die dünne Schale

Wie schön, dass die dünne Schale so fein saniert werden kann. Das Verfahren mit dem Carbonfaserbeton scheint zu der Aufgabe zu passen.

Wie schade, dass Sie die Tragwerksplaner, die sich dieses Verfahren ausgedacht haben, nicht nennen. Ihr Beitrag scheint mir bei diesem Projekt erheblich zu sein.

 
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Blick über die Baustelle Hyparschale zum Magdeburger Dom

Blick über die Baustelle Hyparschale zum Magdeburger Dom

Gerüststangenwald unterm Schalendach

Gerüststangenwald unterm Schalendach

Von oben bietet sich eine perfekte Sicht auf die vier doppelt gekrümmten Dachfelder, jedes mit einem quadratischen Grundriss von 24 x 24 Metern.

Von oben bietet sich eine perfekte Sicht auf die vier doppelt gekrümmten Dachfelder, jedes mit einem quadratischen Grundriss von 24 x 24 Metern.

Die Sanierung der vier Dachfelder erfolgt nacheinander.

Die Sanierung der vier Dachfelder erfolgt nacheinander.

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