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https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Aussichtsturm_in_der_Steiermark_eroeffnet_1060555.html

10.05.2010

Mit der Doppelhelix Raum und Zeit verschrauben

Aussichtsturm in der Steiermark eröffnet


Die Funktion von Aussichtstürmen ist mit „Kommste rauf, kannste runtergucken“ schnell beschrieben. Aber heutzutage sollen solche Türme natürlich auch attraktive Anziehungspunkte für Besucher aus nah und fern sein – wer wüsste das besser, als die Architekten und Landschaftsplaner von terrain (Klaus Loenhart und Christoph Mayr, München/Graz), die schon mit der Skisprungschanze auf dem Gudiberg einen spektakulären Aussichtspunkt über Garmisch-Partenkirchen realisieren konnten. Ende März wurde nun ihr jüngster Streich veröffentlicht: Der Murturm bei der Gemeinde Gosdorf in der Südsteiermark, im österreichischen Abschnitt des Biotopverbundsystems „Grünes Band Europa“, das sich vom nordnorwegischen Eismeer bis zur Schwarzmeerküste an der Grenze zur Türkei erstreckt (mit der Option zur Erweiterung nach Süden).

Die Konstruktion des Murturms, welche die Architekten gemeinsam mit dem osd – office for structural design (Frankfurt/Main) planten, folgt dem Motiv einer sich in die Höhe schraubenden Doppelhelix. So entsteht für die Besucher ein kontinuierlicher Weg: 168 Stufen führen 27 Meter aufwärts zur „bewusst klein gehaltenen Aussichtsplattform, von der sich ein atmosphärischer Panoramablick erschließt“, und anschließend über die andere Wege-Schlaufe wieder hinab. Der Weg führt dabei durch die so genannten „Waldetagen“, die ökologischen Höhenschichten des umgebenden, dichten Auenwaldes, so sollen die ökologische Ordnung und die Veränderungen des Mikroklimas spür- und sichtbar werden.

Dass sich die auf- und die absteigenden Besucher so einmal kurz auf ihren Helixwegen begegnen ist dabei nur ein kleines Detail in der poetischen Kraft des Murturms. Jedenfalls machen die spektakulären Fotos sofort Lust, den Sommer über dem Naturschutzgebiet der Steiermark schweben zu verbringen. Die Architekten: „Formfindung, Tragwerksplanung und Aspekte der Fertigung wurden im Entwurfsprozess von Anfang an integrativ gehandhabt – nach ersten physischen Modellstudien wurden parallel die Modellentwürfe im digitalen Raum statisch dimensioniert um in Folge im physischen Modell wiederum architektonisch überprüft zu werden. Dieser Vorgang wurde vielfach wiederholt bis das gewünschte Zusammenspiel aus Form, Bewegung und Tragwerk gefunden war.
Beim Tragwerk handelt es sich um ein ‚Hybridtragwerk‘, denn hierbei bilden die räumlich biegesteifen Knotenverbindungen in Kombination mit einer Verseilung und Druckstäben das Tragsystem. Das Haupttragwerk wird von Tragrohren und Stützrohren gebildet und gewährleistet die Standsicherheit, während die Verseilung das Schwingungsverhalten und die horizontale Kopfauslenkung begrenzt.“
So konnte erreicht werden, dass sich die Schnittpunkte aller tragenden Elemente in den Verschneidungspunkten von Auf- und Abgang befinden –  weitere statisch erforderliche Knotenpunkte konnten vermieden werden.

Die Architekten singen in ihrem Erläuterungstext dann auch das Hohelied der digitalen Planung: „Die erzeugte Komplexität der Verbindungen erforderte eine konsequente Planung in 3D. Mit den heutigen technologischen Möglichkeiten der 3D-Planung und CNC-gesteuerten Fertigung ist eine Neuinterpretation von Komplexität möglich. Es wurde ein Bausatzprinzip für ein Leitdetail entwickelt, das auf alle weiteren Knoten übertragen werden konnte. Trotz unterschiedlicher Maßstäblichkeit und Materialstärke aller Knoten konnte mit diesem Bildungsprinzip der wiederkehrenden Knotengeometrie eine effiziente Fertigung und hohe Ausführungsqualität erzeugt werden. Das entwickelte Hybridtragwerk funktioniert als räumlich zusammenhängendes Stabtragwerk. Während die vertikale Verseilung das Schwingungsverhalten steuert, kontrollieren die sich horizontal nach oben windenden Seile die Kopfauslenkung.“

Bei der Formfindung ließen sich die Architekten, wie sie freimütig erklären, von der im 16. Jahrhundert erbauten Doppelwendeltreppe in der Grazer Burg inspirieren, der Erich Fried einst mit den „Treppen von Graz“ ein ganzes Gedicht widmete:
„Wer hat diese Doppelwendeltreppe erdacht?
Ist sie für ein Märchen oder für einen Traum gemacht?
Daß man zugleich beide Treppen ersteigt
und auf jedem Absatz sich selbst begegnet und schweigt
und sich ineinander findet und wieder entzweit.
Diese Doppelwendeltreppe verbindet und verschraubt den Raum mit der Zeit.“

Was hätte er wohl erst über den Murturm geschrieben? (fh)


Zu den Baunetz Architekt*innen:

terrain: integral designs


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