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22.01.2025

Buchtipp: Lernen aus der Tradition

Architecture Follows Climate


Der römische Architekt und Theoretiker Vitruv hat der Nachwelt nicht nur die korrekte Anwendung der Säulenordnungen überliefert. Vielmehr erschließen seine, im ersten Jahrhundert vor Christus verfassten Zehn Bücher über Architektur das Architekturwissen der antiken Welt. Da das römische Imperium sich zu jener Zeit vom Mittelmeerraum bis nach England ausdehnte, behandelte Vitruv folgerichtig auch die „Eigentümlichkeiten anderer Weltgegenden“. So hielt er fest, dass das Bauen in Ägypten, Spanien oder im hohen feuchten Norden je nach der „Nähe zur Sonnenbahn“ variiere. Vitruv konstatierte lapidar, dass „die Gebäude in Bezug auf die besonderen klimatischen Verhältnisse in den verschiedenen Gegenden ausgerichtet werden müssen.“

Diese vor über 2.000 Jahren verfasste, mutmaßlich aber viel ältere Einsicht hat Alexandros Ioannou-Naoum seinem Buch Architecture Follows Climate. Traditionelle Architektur in den fünf Klimazonen vorangestellt. Das Zitat passt perfekt und öffnet den Blick in zwei Richtungen. Es dient einerseits in der Rückschau als Beleg für überliefertes Natur- und Technikwissen und bildet andererseits den Anknüpfungspunkt für eine frische und gründliche Beschäftigung mit dem Potenzial vernakulärer Architekturformen. Denn sie spiegeln die enormen Anpassungsleistungen bewohnbarer Strukturen ganz ohne jegliche künstliche Energieversorgung an sehr unterschiedliche, teilweise extreme Klimaverhältnisse weltweit.

Ioannou-Naoum lehrt und forscht an der TU Wien zur Entwicklung klimaneutraler Gebäude, erneuerbarer Energiesysteme sowie passiver Energiekonzepte. So liest sich sein klar strukturiertes, sachlich und schnörkellos geschriebenes, mit Karten, Diagrammen und zahlreichen Schaubildern illustriertes Buch denn auch wie ein durchgearbeitetes Vorlesungsskript über die Grundlagen traditioneller Architekturtechniken aller fünf Klimazonen.

Die knappe Einführung klärt die physikalischen Prozesse und Grundbegriffe des Klimas und setzt sie in Beziehung zur menschlichen Klimaempfindung. Die Kernaufgabe der Architektur, eine angenehme Umgebung für das körperliche Wohlbefinden zu schaffen, liegt an dieser Schnittstelle von äußeren Einflüssen und vitalen Bedürfnissen.

Die fünf Kapitel über das Bauen in den globalen Klimazonen – der tropischen, trockenen, gemäßigten, kontinentalen und polaren Zone – bieten einen Überblick über die Typologien und architektonischen Ansätze von Lowtech-Gebäuden, die in enger Anpassung an die jeweils herrschenden Naturbedingungen und Wettereinflüsse über Generationen entstanden und perfektioniert wurden, um Menschen Schutz und Wohnlichkeit zu bieten.

Die Bauformen folgen dabei unmittelbar den klimatischen Verhältnissen. So sind in der tropischen Zone der Schutz vor Boden- und Luftfeuchtigkeit bestimmend, in der trockenen Zone Beschattung und thermodynamische Kühlungssysteme, in der gemäßigten Zone mit starken Temperaturschwankungen von Sommer und Winter wechselnde Wärme- und Kühlungstechniken, in der kontinentalen Zone solare Wärmespeicherung und in der lebensfeindlichen polaren Zone klimatische Isolierung gegen Wind und Kälte.

Aus diesen Prinzipien ergeben sich differenzierte Gründungs-, Haus-, Dach-, sowie Wohn- und Siedlungsformen. Großräumige Ständer- und Pfahlbauten mit luftdurchlässigen Wänden, hohen Dachvolumen, schattenspendenden Überhängen oder Veranden finden sich rund um den Äquator von Thailand über Indonesien und Hawaii bis nach Brasilien und in die Karibik. Hochfunktional sind auch die zahlreichen Varianten der Hofhäuser und verschachtelten Stadtstrukturen im Norden Afrikas und auf der Arabischen Halbinsel mit ihren passiven, über Generationen erprobten architektonischen Kühlungssystemen, solaren Kaminen und Windtürmen. Typisch für die Kompensation der Temperaturwechsel in der gemäßigte Zone sind additive Baumaterialien und Verbundsysteme sowie von der Tages- und Jahreszeit abhängige Raum- und Gebäudenutzungen.

Die große Bandbreite der diskutierten Typologien reicht von eingegrabenen, nordamerikanischen und tunesischen Erdhäusern, kappadokischen Höhlenbauten und Pueblos in New Mexico über das kreisförmige chinesische Stampflehm-Tulou und die steinernen Trulli Apuliens bis zu mobilen Bauwerken wie dem indianischen Tipi oder der zentralasiatischen Jurte. In den von Polartagen und -nächten geprägten Eiswüsten ist Schnee schließlich der einzig nutzbare natürliche Baustoff und das Iglu, auch als Agglomeration mehrerer Schneekuppeln, die einzige Bauform.

Ioannou-Naoum hat seinen Band als praktischen Atlas konzipiert, der dazu inspirieren will, überliefertes Bauwissens in eine heutige klimagerechte Gebäudeplanung mit einzubeziehen. Entstanden ist ein Buch, das nicht nur physikalische Phänomene und Prozesse verdeutlicht und konkrete Lösungen aufzeigt, sondern darüber hinaus die Vielfalt menschlichen Einfallsreichtums und Erfahrungswissens beim Entwickeln behaglicher und energieautonomer Häuser demonstriert.

Text: Ulrike Alber-Vorbeck

Architecture Follows Climate. Traditionelle Architektur in den fünf Klimazonen
Alexandros Ioannou-Naoum
416 Seiten
Birkhäuser Verlag, Basel 2025
ISBN 978-3-0356-2779-4
69 Euro


Zum Thema:

Wer sich mehr Anschaulichkeit zum Thema wünscht, dem sei der reich mit Fotos bebilderte Band Traditionelle Bauweisen. Ein Atlas zum Wohnen auf fünf Kontinenten von Christian Schnittich sehr empfohlen.


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