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05.07.2022

Vom Flüchtlingslager zum Museum

Anbau von BIG an der dänischen Nordseeküste


Schon wieder ist ein von BIG geplantes Museum in Dänemark fertig geworden. Es erinnert an das einst größte dänische Flüchtlingscamp. Die Architektur ist sehenswert – auch weil sich der Entwurfsansatz von den Vorgängerbauten des Büros unterscheidet.

Von Klaus Englert


Irgendwann muss sich das von Bjarke Ingels gegründete Büro BIG vorgenommen haben, die dänische Museumslandschaft zu revolutionieren. Alles fing 2013 mit dem Danish Maritime Museum in Helsingør an, das in ein Trockendock gezwängt und dessen Eingang so positioniert ist, dass man einen grandiosen Blick auf Schloss Kronborg hat, wo sich einst die Tragödie um Hamlet abgespielt hatte. Nicht weniger spektakulär ist die Lego-Erlebniswelt in Billund von 2017, die als getreppte Pyramide mit öffentlichen, terrassenförmigen Flächen und als städtisches Wahrzeichen der vom Lego-Imperium dominierten Kleinstadt entworfen ist. Fast zeitgleich entstand an der jütländischen Nordseeküste das Tirpitz-Museum, benannt nach einem deutschen Weltkriegs-Admiral und einer von der Wehrmacht errichteten Bunkeranlage an der Nordseeküste. Die Architekt*innen gruben das Museum, das sich dem schwierigen Zusammenleben von Dänen und Deutschen während der Besatzungszeit widmet, in die jütländischen Dünen ein und passten es dem Verlauf der Landschaft an.

Nur 15 Kilometer vom Tirpitz-Museum entfernt, im kleinen Ort Oksbøl, ist nun das Flugt-Museum mit einer sehr ähnlichen Ausstellungsthematik fertig geworden. Und doch ist das Haus, das kürzlich von der dänischen Königin Margarethe II. und dem deutschen Vizekanzler Robert Habeck eröffnet wurde, ebenso wie die früheren Museumsbauten von BIG, ein eigenständiger Entwurf. Es erzählt vom Lagerleben deutscher Heimatvertriebener, die Anfang 1945 vor der Roten Armee ins vermeintlich sichere, von der Wehrmacht besetzte Dänemark flohen.

Neben Alltagsutensilien der Menschen sind historische Aufnahmen zu sehen, die das Leben unter entbehrungsreichen Verhältnissen dokumentieren. Etwa ein Lageplan vom Flüchtlingslager Oksbøl: Sichtbar wird ein Areal mit etwa 250 Baracken, die bis zu 36.000 Menschen aufnahmen. Oksbøl, das größte dänische Flüchtlingscamp, galt seinerzeit als die fünftgrößte Stadt des Landes, mit Schule, Krankenhaus, Sporthalle und Theater. Während der Besatzung Dänemarks räumte die Wehrmacht ihre Kasernen, um auf Befehl Hitlers deutsche Flüchtlinge aufnehmen zu können. Auf Geheiß der Alliierten blieben sie bis 1949, obwohl die deutschen Flüchtlinge bei den Einheimischen keineswegs auf Gegenliebe stießen.

Heute wird diese Vergangeneheit einzig auf den Fotos lebendig. Nachdem die letzten Deutschen das Lager verlassen hatten, drangen die Dänen darauf, die ungeliebte Einrichtung zu beseitigen und ließen Gras drüber wachsen. An der Stelle sprießt nun ein dichter Wald. Wenngleich die Unterkünfte verschwunden sind, verblieben zwei Krankenhausflügel im nordöstlichen Winkel des Areals. 15 Jahre lang überlegte die Direktion des kommunalen Vardemuseerne, wie sie museumstauglich zu machen wären.

Das nun eröffnete Museum gehört mit Sicherheit nicht zu den spektakulären Gebäuden von BIG. Und es dürfte das erste Mal sein, dass das weltweit tätige Kopenhagener Büro die Herausforderungen eines konventionellen denkmalgeschützten Bestandsgebäudes angenommen hat. Dabei ist ein architektonischer Hybrid entstanden, der mit großem Feingefühl Alt- und Neubau, die traditionellen Baukörper und das multifunktionale Entree aufeinander bezieht, ohne dabei das geringste Gefühl von selbstverliebter Stararchitektur aufkommen zu lassen. Bjarke Ingels bewies Fortune, indem er eine scheinbar einfache Bauaufgabe – nämlich die beiden, im rechten Winkel aufeinander zulaufenden Klinikflügel zusammenzuführen – mit einem komplexen Entwurf beantwortete.

Eigentlich hätte man sich das hinzugefügte Foyer als ein konventionelles Gewölbe, als normales Scharnier zwischen den historischen Klinkerbauten vorgestellt. Doch das wäre Ingels wohl zu simpel gewesen, weshalb er entschied, die Fassade mit Cortenstahl zu verkleiden und im Innern 110 Holzsparren wie gotische Strebebögen bis zum Dachfirst hinaufzuführen, um sie dann zu dem mittig liegenden, tropfenförmigen Patio abzuführen. Damit gelang es, das Entree dynamisch, ja geradezu expressionistisch wirken zu lassen. Außergewöhnlich ist auch der Kontrast zwischen geschlossener Fassade und der umlaufenden, geschosshohen Glaswand, die aus dem Innenhof viel Tageslicht ins Foyer lässt.

Trotz aller Unterschiedlichkeit der Bauteile glichen die Architekt*innen Materialität, Traufhöhe und Farbigkeit der Alt- und Neubauten einander an. Dieser Respekt manifestiert sich an einer einfachen, aber zentralen Entwurfsidee: 80.000 gelbe Backsteine durchziehen Foyer und Ausstellungsflächen, sie verbinden unscheinbar den modernen Annex mit dem historischen Bestand.

Und die Ausstellung? Die Utrechter Ausstellungsarchitekten Tinker Imagineers bespielen nur einen Teil des Südflügels mit Dokumenten und Relikten des Lagerlebens. Den Großteil der Ausstellung zeigen sie im Ostflügel, wo sie den aus Europa, Asien oder Afrika in Dänemark ankommenden Flüchtlingen eindrucksvoll Namen und Gesicht verleihen. Das ist Ausstellungsmaxime des Niederländischen Büros, die damit zu kämpfen hatten, dass es laut Weltflüchtlingsrat mittlerweile weltweit 100 Millionen Flüchtlinge gibt.


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