Die Montessori-Pädagogik ist heute eine der weltweit bekanntesten alternativen Lehrmethoden. Sie geht zurück auf die Italienerin
Maria Montessori, die bereits 1907 in San Lorenzo, einem ärmlichen Stadtteil Roms, ihre erste Kindertagesstätte „Casa dei Bambini“ eröffnete. Grundlegend für das Konzept ist die Erkenntnis, dass Kinder am besten selbst entscheiden können, was und wie sie lernen wollen. Daraus leitet sich etwa die beobachtende Distanz der Erzieher*innen ab, die den ungestörten Lernprozess ermöglichen soll. Montessori selbst sprach sich dafür aus, dass „nicht das Kind sich der Umgebung anpassen soll, sondern wir die Umgebung dem Kind anpassen sollten“.
Dass Architekt*innen in der Vergangenheit entsprechende Raumkonzepte erarbeitet hätten, würde naheliegend erscheinen. Im Gegensatz jedoch zur anthroposophischen Architektur (zu der es zahlreiche Veröffentlichungen und mit dem Angebot an der Alanus Hochschule Alfter sogar eine an den Konzepten
Rudolf Steiners orientierte Architekturlehre gibt), handelt es sich bei Montessori-Architektur weder um einen feststehenden Begriff noch gibt es konkrete Ausarbeitungen zu räumlichen Konzepten. Das Buch
Montessori Architecture. A Design Instrument for Schools ist der erste Versuch, architektonischen Entwurfsfragen gemäß der Ideen Montessoris nachzuspüren, sie zu verstehen und zu ordnen.
Der Ansatz der Autoren
Steve Lawrence und
Benjamin Stæhli lässt sich am besten mit dem bekannten Leitspruch der Montessori-Pädagogik beschreiben: „Hilf mir, es selbst zu tun“. Bei der Veröffentlichung handelt es sich mitnichten um ein vollständiges, allumfassendes Regelwerk. Vielmehr lässt sich das Buch als eine erweiterbare Sammlung beschreiben, die Inspirationen und Anregungen zur eigenen Umsetzung bietet – und das nicht nur für Montessori-Schulen. Die Autoren selbst weisen darauf hin, dass Montessori-Pädagogik keineswegs nur in einer entsprechend gebauten Schule angeboten werden könne. Dazu passt nicht nur das offen angelegte Konzept des Buches; besonders deutlich wird diese Auffassung mit Blick auf die Online-Version
montessori-architecture.org. Hier wird das Material in großen Teilen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt, und es können sogar eigene Entwürfe eingereicht werden, womit zur Beteiligung an dem Projekt eingeladen wird.
Die Primärfarben Gelb, Rot und Blau, die auch in den von Maria Montessori entwickelten Unterrichtsmaterialien wie beispielsweise dem Trinomischen Würfel wiederzufinden sind, unterteilen das Buch in die drei Abschnitte „Montessori Architecture“, „Patterns“ und „Repertoire“. Im dem sehr kurzen ersten Teil wird ein grober Umriss zur Lehrmethodik gegeben. Außerdem spüren die Autoren den Einflüssen aus Architektur, Kultur und Kunst nach. Insbesondere die Verbindung zum niederländischen Innenarchitekten
Ad Grimmon wird dabei beleuchtet, der in Absprache mit Maria Montessori einen Prototyp für die ideale Montessori-Schule entwarf. Das Material – ein paar Zeichnungen mit einer kurzen Notiz Montessoris – ist jedoch wie so vieles recht dürftig. Ein weiteres Beispiel dafür sind die knappen Ausführungen zum Rietveld-Schröder-Haus, das zeitweise als Montessori-Schule genutzt wurde.
Es sind allerdings der zweite sowie dritte Teil des Buches, die den eigentlichen Kern der Veröffentlichung bilden. Im Teil „Patterns“ greifen die Autoren die besonderen Merkmale der Montessori-Architektur auf. Insgesamt 28 solcher Muster werden anhand von Grafiken und den Unterpunkten „Idee“ und „Aufgabe“ sowie mittels Beispielen erklärt. Die Muster sind wiederum in sieben Level unterteilt, die den Entwurfsprozess vom Großen zum Kleinen nachzeichnen: Fragen nach dem Aufbau des Raumprogramms, nach Materialien oder Ausrichtung gelten eher generellen Entwurfsprinzipien. Der Übergang von außen nach innen, die Beleuchtung sowie das Möbeldesign gehen weiter ins Detail.
Einige der Muster sind durchaus allgemeingültig, bei anderen wiederum lassen sich die Ideen Montessoris viel deutlicher ablesen. Dazu gehört etwa der Verzicht auf Türen ebenso wie die Nutzung der Böden zum Spielen und Lernen. Dabei, schreibt Stæhli, sei es ihnen ein besonderes Anliegen, dass die Sprache dieser Montessori-Muster in jeden kulturellen Kontext übersetzt und unabhängig von den Bedingungen, den wirtschaftlichen Möglichkeiten oder sogar dem pädagogischen Ansatz angewendet werden könnte.
Im dritten Teil „Repertoire“ werden schließlich konkrete Projekte gezeigt und beschrieben. Begleitet werden sie von umfangreichem Bildmaterial und ausklappbaren Plänen mit Grundrissen, Schnitten und Ansichten. Die Standorte spiegeln eine enorme Vielseitigkeit wider: Von den Niederlanden und Großbritannien über Bangladesch bis hin zu Burkina Faso und Tansania werden neun Schulen präsentiert, die in die Zonen tropisches, subtropisches und gemäßigtes Klima eingeteilt sind. Bei vier der Schulen handelt es sich um Einrichtungen, die in Bestandsgebäuden untergebracht wurden. Als prominenteste Beispiele werden die St. Bridget's Montessori School in Colombo, Sri Lanka und die von
Herman Hertzberger entworfenen Apollo Schools in Amsterdam gezeigt.
Hertzberger hat auch das Vorwort geschrieben, in dem er ebenfalls betont, dass das Buch lediglich als Versuch zu verstehen sei, den Ideen von Maria Montessori in Raum und Form zu folgen. Es handele sich um Anstöße zur Reform des traditionellen Schulsystems, deren gemeinsames Thema die Entwicklung der Fähigkeiten eines jeden Kindes sei. Auffällig ist, dass es sich bei den meisten Projekten um relativ kleine, übersichtliche Einrichtungen handelt. Interessant wäre zum Beispiel, wie das Konzept in der mit 51.000 Schüler*innen weltweit größten Schule, der City Montessori im indischen Lucknow umgesetzt wird, oder wie es sich auch allgemein auf größere Komplexe übertragen ließe.
Text: Dorit Schneider-Maas
Montessori Architecture. A Design Instrument for Schools
Steve Lawrence und Benjamin Stæhli
Englisch
286 Seiten
Park Books, Zürich 2023
ISBN: 9783038603153
48 Euro
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