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03.06.2011
Jan Fabre
Über seine Arbeit „Pietas“
Der Belgier Jan Fabre inszenierte mit seiner Arbeit „Pietas“ eine raumfüllende Installation in der Nuova Scuola Grande di Santa Maria della Misericordia. Wir trafen den Künstler vor Ort und sprachen mit ihm über gespiegelte Neuronen, denkende Kokons und die Tür zum Imagination.
Jan Fabre, mit Ihrer Arbeit „Pietas“ haben Sie nicht nur an einer der Hauptmotive sakraler Kunst gewählt, sondern ebenso die Pietà-Darstellung Michelangelos zitiert. Warum?
Die Pietà ist ein Symbol, stärker im Jenseits als im Jetzt zu leben. Das Leben wird damit zu einer geborgten Zeit. Der Mann, der in den Armen Marias liegt, ist Gott selbst. Er trägt einen Anzug und ist barfuss. Das ist das Zeichen dafür, dass er sich bereits auf dem Weg ins Jenseits befindet. Auf seinem Körper erfolgt eine Zelebrierung des Lebens durch die Natur. Die Insekten, die sich auf ihm befinden, sind mit einzelnen Teilen des Körpers verbunden. Es sind Insekten, mit denen ich in den vergangenen dreizig Jahren immer wieder gearbeitet habe. Das Gesicht von Maria ist ein Totenkopf, der symbolisiert, dass die Mutter ihren Sohn opfert. Aus der Hand des Sohns fällt ein Gehirn. In diesem Moment öffnet sich die Tür zur Imagination. Die Vernunft wurde fallen gelassen.
Warum haben Sie der Jesusfigur Ihr eigenes Gesicht gegeben?
Weil ich zweimal in meinem Leben im Koma lag und ich das Gefühl habe, tatsächlich nur geborgene Zeit zu leben. Natürlich steckt in einem Selbstportrait nicht nur die eigene Person. Ein Selbstportrait ist immer auch die Faszination für das andere, das Fremde. Ich haben für die Skulpturen den besten Carrara-Marmor verwendet, weil ich das Gefühl eines reinen Weiß einfangen wollte. Ein Weiß, das so rein ist wie Muttermilch. Den Boden habe ich mit Blattgold überzogen und zu einer Art Bühne gemacht. Gold wird historisch betrachtet oft an der höchsten Stelle in Gemälden oder an Decken verwendet, um sie auf diese Weise nach unten zum Betrachter zu bringen. Ich habe dies umgedreht.
Umgeben wird die Arbeit von vier übergroßen Gehirne, die ebenfalls aus Marmor gearbeitet wurden. Auch bei Ihren früheren Arbeiten haben Körperteile immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt. Wird hier das Gehirn zum Sinnbild des Lebens?
Ja, die Pieta ist das Gehirn. In den letzten sechs Jahren habe ich eine Recherche über das Gehirn gemacht und mich intensiv mit Wissenschaftlern ausgetauscht. Vor allem der italienische Wissenschaftler Giacomo Rizziolatti hat mich stark beeinflusst. Er hat nachgewiesen, dass unsere Neuronen über Spiegel verfügen, die uns zum kopieren, imitieren oder dem Empfinden von Mitgefühl verleiten. Das Gehirn ist für mich das erotischste aller Körperteile.
Aus drei der Gehirne wachsen religiöse Symbole heraus, während das vierte quasi „auf dem Rücken“ liegt. Was hat es mit dieser Anordnung auf sich?
Ich wollte einen spirituellen Ort schaffen, an dem verschiedene Religionen aufeinandertreffen. Aus einem Gehirn wächst das Symbol des Heidentums, aus einem anderen wächst ein Kreuz des Christentum und aus dem dritten Gehirn wächst ein Bonsai heraus, der für mich sowohl eine Referenz auf die japanische Shinto-Spiritualität als auch die Miniaturmalerei der flämischen Meister ist. Bei dem vierten Gehirn steht die Welt auf dem Kopf. Denn ein Gehirn ist für mich immer auch eine Art Globus. Die vier Schildkröten, die wie das Gehirn auf dem Rücken liegen, sind eine Referenz auf die chinesische, indische, aber ebenso auch griechische Tradition. Denn die Vorhersagen des Orakels von Delphi wurden über die Sprache der Schildkröten interpretiert. An den Wänden befinden sich grüne Kokons, die mit den Schalen tausender Skarabäus-Käfer bedeckt sind. Auch sie sind Gehirne, aus denen etwas herauskommt und wieder eindringt. Sie warten und sind beschützen diesen spirituellen Raum.
Die Arbeit mit Insekten findet sich auch fast allen Ihrer Werke wieder. Woher kommt Ihr Interesse an Käfern und Schmetterlingen?
Der Skarabäus ist für mich der älteste Computer der Welt, der Dinge in Erinnerung bringt. In den Vantias-Gemälden der alten Meister steht der Skarabäus als Brücke zwischen Leben und Tod. Auch meine Arbeit greift das Thema der Vanitas auf. Die „Pietas“ ist ein Ort, an dem die Zeichen der Kunst, Wissenschaft und Spiritualität und Wissenschaft zusammenkommen.
Vor allem der räumliche Kontext spielt eine wichtige Rolle in Ihrer Arbeit. Warum haben Sie sich für die Nuova Scuola Grande di Santa Maria della Misericordia als Ort der Ausstellung entschieden?
Ich habe den Ort vor zwei Jahren gefunden, als ich an der letzten Biennale teilgenommen habe. Es war früher eine Schule für geistig Behinderte. Ich wusste sofort, dass er gut zu dem Konzept passen würde, das ich im Kopf hatte.
In Ihrer Ausstellung „Die Jahre der Blauen Stunde“, die derzeit im Kunsthistorischen Museum in Wien zu sehen ist, haben Sie Zeichnungen mit blauem Kugelschreiber neben Gemälde von Rubens, Rembrandt oder Tizian gehangen. Wollen Sie die alten Meister herausfordern?
Ich denke, dass Avantgarde immer in Tradition verwurzelt ist. Wenn ich meine Arbeiten im Louvre oder im Kunsthistorischen Museum zeige, entsteht ein Dialog mit den all diesen Meistern, gegen die ich ein Zwerg bin. Es geht mir aber auch darum, zu zeigen, woher ich komme. Durch meine Arbeit können die Besucher den Wert, die Schönheit, die Imagination und die Subversivität der alten Meister wieder entdecken. Denn gerade die alten Meister waren oft subversiver als der Großteil der zeitgenössischen Künstler.
Was haben Sie von den alten Meistern, allen voran den flämischen, gelernt?
Ich habe viel von ihnen geklaut (lacht). Zum Beispiel wie Jan van Eyck mit seinen Figuren umging und stets ein ganzes Universum in einen Rahmen fügen konnte. Oder nehmen Sie Hieronymus Bosch, der imaginativ und voller Risiko war. Viele ihrer oft Symbole sind heute vergessen. Ich greife ich in meiner Arbeit wieder auf und befreie sie vom Staub. Ich geben ihnen ihre Bedeutung zurück.
Interview: Norman Kietzmann, Fotos: Torsten Seidel