17.08.2010
Sehnsucht (acht): Wolfgang Kil
Es gilt ja als unzulässig, Heimlichkeiten von Jurysitzungen auszuplaudern. Doch eine Beobachtung seit hier offen mitgeteilt: Es gibt doch verschiedene Arten von Preisgerichten. Am anstrengendsten sind wohl jene, auf denen die folgenschweren, teuren und unter historischer Bedeutsamkeit ächzenden Bauaufgaben verhandelt werden. Da ist über Funktion und Kontext, über Stil, Mach- und Bezahlbarkeit zu befinden. Schließlich geht es um enorme Auftragsvolumen, nicht selten werden politische Rücksichten und private Freundeskreise tangiert.
Dann gibt es aber auch die Kategorie der Ehrenpreise, die für bereits realisierte Bauten vergeben werden. Wenn alle Risiken der Planungs- und Bauphase glücklich ausgestanden sind, darf man sich auf das blanke Wohlgefallen konzentrieren. Da darf auch die Architektur einmal Sonntag haben. Dann wird man erleben, wie die Juroren sich zurücklehnen und zu Beginn einiger erholsamer Stunden einander erst einmal ihr berufliches Credo bekennen. Wobei sich schon hier, in der Aufwärmphase, herauszustellen pflegt, dass der durchschnittliche Preisrichter – egal, welchen Alters oder welcher Lehrmeinung verpflichtet – alles „Modische“ entschieden ablehnt, dafür aber solide Handwerklichkeit natürlich zu schätzen weiß. Selbst wenn anschließend noch gelinder Streit ausbrechen sollte – am Anfang sind alle einträchtig von den gleichen Idealen beflügelt, von den ewigen Konstanten der Profession, jenen hochmoralischen Lehr- und Leitsätze der allerersten Entwurfsübungen, die man an Schulen im Norden oder Süden, im Westen wie im Osten gleichermaßen verinnerlichen durfte, eine „ästhetische Grundsozialisation“ sozusagen: Klarheit, Einfachheit, Ehrlichkeit. War es denn nicht wirklich das, was uns im innersten Herzen an diesen Beruf bindet, warum wir ausgerechnet ihn wählten und nie einen anderen?
Juroren sind auch nur Menschen. Warum sollen sie bei aller rasenden Dynamik ihres computerisierten Berufslebens sich nicht auch manchmal nach einer elementaren Geste sehnen, nach der meditativen Stille des japanischen Gärtchens beispielsweise, um dort, im sanften Schattenspiel unaufgeregter Geometrien, sich vom ewigen Gerangel mit der Komplexität zu erholen. Anders sollte er nicht zu erklären sein, der Kontrast zwischen der immer weiter zunehmenden Größe und Formenvielfalt neuzeitlicher Bauaufgaben einerseits, und der Vorliebe andererseits für eher kleine, überschaubare, „geradlinige“ Projekte, die auf solchen Ehrenpreisgerichten unverkennbar dominiert.
Um es überspitzt zu sagen: Wenn die Architektur Sonntag hat (und nicht gerade wieder ein Markenmuseum für Premium-Automobile eröffnet wurde), stehen die Chancen jedes brav verwitterten Heuschobers am kahlen Berge besser als die all der exaltierten Lückenfüllungen zwischen Bahnhof und Gewerbegebiet. Back to the Roots, könnte man das hier waltende Sehnsuchtsmotiv beschreiben, denn ist es nicht erstaunlich, wie Das Haus – im Gegensatz zur sonstigen Entwurfspraxis – an solchen Sonntagen selten mehr als vier gerade, glatte Wände hat und obendrauf am liebsten sogar ein steiles Dach?
Wolfgang Kil (*1948) ist Architekturkritiker und Publizist aus Berlin und hatte schon während des Studiums ein Faible für die Ausstellung „Architektur ohne Architekten“, die damals gerade ihre Welttournee begann.