12.08.2010
Sehnsucht (sieben): Brigitte Schultz
Sehnsucht richtet sich immer in die entgegengesetzte Richtung. Wo immer wir sind, die Sehnsucht ist auf der anderen Seite. Architektur entsteht aus der Sehnsucht. Wir standen vor den Mietskasernen des 19. Jahrhunderts und sehnten uns nach Licht, Luft und Sonne. Wir standen vor den Siedlungen der Moderne und sehnten uns nach überschaubaren Räumen, hohen Decken und der Atmosphäre des Alten. Wir stehen vor Restauriertem, Wiederaufgebautem und Historisiertem und sehnen uns nach etwas Neuem, nach einem mutigen „Voran“. Obwohl wir wissen, wie dieses Pendel schwingt, entkommen wir ihm nicht. Unsere Sehnsüchte sind wie wir Kinder unserer Zeit.
Des einen Sehnsucht ist des anderen Schreckbild. Die Sehnsucht der Bewohner nach Behaglichkeit lassen wir Architekten allenfalls beim Raumklima gelten. Die Sehnsucht der Architekten nach Klarheit gilt den Benutzern als Kälte. Die Sehnsucht nach Schönheit treibt zum Bauen an, doch das Ziel versteht jeder anders, es ist nicht messbar und wird schon allein deshalb selten erreicht.
„Die Sehnsucht ist dem Menschen oft lieber als die Erfüllung“, schrieb August Julius Langbehn schon 1890. Wir ändern uns nicht so sehr, wie wir gerne glauben würden. Wenn Architekten Sehnsüchte mit Wünschen verwechseln, die zu erfüllen sie antreten, zerstören sie ihre Natur. Wer baut, verliert? Die These: Architektur ist zu konkret für Sehnsüchte. Der „gebaute Traum“ kann nie mehr sein als ein Satzbaustein aus der Mottenkiste der Immobilienwerbung. Oder: Was immer wir bauen, die Sehnsucht wird bleiben.
Brigitte Schultz ist Architekturjournalistin, seit 2005 in der Redaktion der Bauwelt.