Crystal Talk
Text: Florian HeilmeyerFotos: Torsten Seidel, muf architecture / art

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muf architecture / art
muf architecture / art

Das weiß doch jedes Kind: Der Bäcker macht das Brot, beim Buchhändler gibt es keine sauren Gürkchen und Architekten bauen Gebäude. Ja? Nun, wer sein Definitionsnetz so grob strickt, dem entwischt ein dicker Fisch wie „muf architecture / art“. Das Londoner Büro hat seit seiner Gründung 1995 nur ein „echtes“ Gebäude realisiert. Im Gegenteil haben sie ihren Klienten sogar mehrfach vom Bauen abgeraten, wenn sie fanden, die Aufgabenstellung könnte auch ohne Neubauten gelöst werden. Dabei sind sie aber eines der fantasiereichsten, radikalsten und humorvollsten Büros, die es derzeit gibt, und seit einigen Jahren wird ihren sehr komplexen Projekten auch endlich internationale Aufmerksamkeit zuteil. 2008 haben sie den European Prize for Urban Public Space erhalten und 2010 sind sie als Kuratoren des britischen Pavillons so etwas wie die offiziellen nationalen Repräsentanten Englands auf der Architekturbiennale in Venedig. Dabei ist muf sicherlich noch immer kein normales Architekturbüro – aber Architektur kann ja auch so viel mehr sein als Gebäude.

muf-Projekte widmen sich immer dem öffentlichen Raum, selbst wenn es um ein einzelnes Gebäude geht. Jedes Gebäude ist für muf Bestandteil eines komplexen Netzwerks im räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gewebe. Um diese Zusammenhänge offen zu legen, beginnt jedes Projekt mit geradezu obsessiven Analysen: Interviews und Gespräche mit Anwohnern, Nutzern, Passanten, Bauherren, Vereinen, Institutionen und Politikern werden geführt, deren Wünsche, Forderungen, Meinungen und Interessen in Karten und Diagrammen sichtbar gemacht. Dann entwickelt muf eine Strategie, wie Stärken bewahrt, Schwächen gemindert und Potenziale genutzt werden können. Scheinbar mühelos bedienen sich muf dabei aus den Werkzeugkästen von Architektur, Kunst, Stadtplanung, Theorie und Politik. „Wir sind nicht gegen Gebäude“, sagt Liza Fior, eine der vier Gründerinnen von muf, im Interview. „Wir haben zuletzt sogar relativ viele Wohnungsprojekte entworfen, die allerdings wegen der ökonomischen Krise erst einmal nicht realisiert werden.“ Es ist nur so, dass Gebäude in den angesprochenen Werkzeugkästen eben nur eines von sehr, sehr vielen Werkzeugen sind, mit denen man den öffentlichen Raum beeinflussen kann.



Nein, muf ist kein normales Architekturbüro. Es ist ja 1995 auch nicht mit diesem Anspruch gegründet worden. Die vier Gründerinnen waren Freundinnen und Arbeitskolleginnen, die für eine Kunstinstitution eine Studie anfertigen sollten, daraus wurde eine Ausstellung, dann kamen ein Wettbewerb und ein erster Auftrag. Plötzlich sollten sie ein Büro sein, die Architektinnen Liza Fior und Juliet Bidgood, die Autorin Katherine Shonfield und die Künstlerin Katherine Clarke – und sie hatten noch nicht einmal einen Raum. muf entwickelte sich nicht nach einem Business-Plan. Das Büro war eher ein offener Arbeitsraum, in dem die Leute kamen und gingen. So entwickelte sich eine gut vernetzte Plattform mit vielen Beitragenden. Bei jedem Projekt entstanden neue Konstellationen, und stets wurde der interdisziplinäre Austausch mit externen Experten gesucht. So war muf im konservativen England der 1990er-Jahre in jeder Hinsicht eine rare Ausnahme.


muf wollten mitten in der von Richard Rogers proklamierten „Urban Renaissance“ keine allwissenden Problemlöser sein, sondern Berater und Moderatoren in einem partizipativen Prozess. Viele ihrer frühen Projekte wirken wie eine rein intellektuelle Kritik am konsumorientierten Umgang mit öffentlichem Raum. Beobachter, die muf wohlgesonnen waren, empfanden solche Arbeitsmethoden oft als skurril oder idealistisch. Weniger Wohlgesonnene hielten muf für linksradikale Politaktivisten, Exzentriker, Querulanten oder Feministinnen, weil ja fast nur Frauen dort arbeiteten. Insgesamt schossen die Spekulationen ins Kraut, und für jedes widerlegte Gerücht wuchsen drei nach. „Wir lehnten es irgendwann ab, über unser Geschlecht zu sprechen und ließen die Missverständnisse, was „muf“ bedeuten könnte, stehen“, so beschreiben sie es in ihrem Buch. „So wurden wir mitschuldig an unserem eigenen Mythos und kämmten uns brav die Haare bei Fotoaufnahmen.“

Gleichzeitig verloren viele Beobachter das Interesse an muf, weil man nicht wusste, in welche Schublade sie gesteckt werden sollten – sie bauten nichts, sagten nichts mehr zur Rolle der Frau, und ihre komplizierten, ausführlichen Projekte produzierten fast nie spektakuläre Bilder, die sich leicht hätten verkaufen lassen. Gleichzeitig wuchs bei muf die Überzeugung, dass man auf dem rechten Weg sei. Im Vorwort ihres Buches „this is what we do – a muf manual“ (2001) findet sich das Kapitel „Wie man den Nerv hat, keine Gebäude zu bauen und sich trotzdem Architekt zu nennen“. Dort schreiben sie: „Gebäude werden stets für das Ziel der Architekten gehalten, wo immer Du auf Deinem Karrierepfad von der Küchenerweiterung zum Museumsentwurf gerade bist.“

Befreit von dem Zwang, etwas bauen zu müssen, entwickelte muf mit Kunststrategien Alternativen für die öffentlichen Räume englischer Städte. Bei „Wide“ (1998) sollten die öffentlichen Räume in einem besonders tristen Viertel des sozialen Wohnungsbaus mit Kunstwerken verschönert werden. muf luden stattdessen Künstler ein, erst einmal das Potenzial und die Geschichte der Räume zu erforschen: Anwohner wurden nach ihren Träumen, Wünschen, Forderungen befragt. Traumorte wurden auf großformatigen Photographien mitten in der backsteinbraunen englischen Sozialrealität aufgespannt, eine Schafherde graste auf den ungenutzten Wiesen und zeigte, dass die urenglische Idylle nicht so weit entfernt ist. Ja, es durfte geschmunzelt werden. Auch Lachen kann gut sein für den Patienten.





mufs ausführliche Analysen machen es immer wieder nötig, die Aufgabenstellung oder das Einsatzgebiet zu erweitern. Wie etwa bei „Shared Ground“ (2001): Entlang der Southwark Street, in direkter Nachbarschaft zur Tate Modern, sollten die öffentlichen Plätze neu gestaltet werden. muf befragte 100 Anwohner und machte damit eine vielfältige Wunschlandschaft sichtbar, die weit über das vorgegebene Territorium hinausging. Anschließend wurde eine Serie von dauerhaften und temporären Verbesserungen realisiert, der Platz für Autos wurde verkleinert, dafür wurde der Bürgersteig auf der sonnigen Seite breiter. So umfassend die Arbeit und so spektakulär die Inhalte sind, so unspektakulär sehen ihre Eingriffe oft aus. Oft reichen nach genauer Analyse schon kleine Verbesserungen, um eine große Wirkung zu entfalten. Teil von mufs Philosophie ist es, dass nur ein ganz genaues Hinsehen einem die gesamte Komplexität der Situation offenbart.


Viele muf-Projekte liegen im direkten Umfeld großer Stadtentwicklungs- projekte. Nach der Tate Modern gewannen sie den Wettbewerb für die Freiflächengestaltung am Millennium Dome. „Wir wollten eine Alternative anbieten zum Dome als singuläres Objekt und zu der rein anekdotischen Qualität der Freiflächen – es war ein frustrierendes Projekt“, schreiben sie später. Dem Investor waren schon die Gespräche mit Anwohnern, Initiativen, Politikern und Vereinen suspekt; die gesammelten Ideen für Schlittschuh- bahnen und Kinderspielplätze und eine Öffnung in der Kuppel gaben der Zusammenarbeit nach nur neun Monaten den Rest. Derzeit beschäftigen sie sich mit gleich vier Projekten in der Nähe von Londons neuem Olympischen Quartier. muf hat sich einen ziemlich guten Ruf als Experte für diese städtischen „Nahtstellen“ erworben, an denen sie versuchen, die großen Entwicklungssprünge nachhaltig und sozial verträglich mit deren Umgebung zu verknüpfen. Bei „High Street 2012“ sollten Gelder in die Verschönerung der Olympischen Marathonroute investiert werden.

„Unser Plan sieht vor, hier Räume für Anmut und Vergnügen zu schaffen. Plätze, die mit der Vergangenheit verbunden sind und die Straße als sozialen Raum anerkennen.“





Internationale Aufmerksamkeit erregten muf mit ihrem Projekt „Barking Town Square“, das 2008 mit dem European Prize for Urban Public Space ausgezeichnet wurde. Im Londoner Vorort Barking haben sie einen im besten Sinne eklektischen Platz entworfen, der die Bezüge zu seiner gebauten, historischen und sozialen Umgebung ebenso fantasievoll, wie nachdenklich und augenzwinkernd herstellt. Ein kleines Wäldchen mit 16 verschiedenen Baumsorten wird nachts sanft beleuchtet, aus den Ziegelresten von Barkings Abrisshäuser wurde eine Wand gemauert, die wie eine Ruine aussieht und inklusive der oben thronenden Skulptur eines Schafes an Barkings Vergangenheit erinnert. Eine Arkade, die mit schwarz-weißem Terrazzo- Boden an die Grandezza der Edwardischen Epoche Londons anknüpft, verbindet den Platz mit der neuen Einkaufsstraße; die Arkade ist dabei wohl die einzige ihrer Art gänzlich ohne Läden – sie ist einfach ein schöner, öffentlicher und überdachter Ort.

muf respektiert das Vorhandene und prädeterminiert die Nutzung der neu gestalteten Räume nicht. Deswegen ist es ja so wichtig, erst einmal die vorhandenen Netzwerke aus Menschen, Gebäuden und der Geschichte eines Ortes sichtbar zu machen, ohne diese sofort zu bewerten. Genauso handelt die Ausstellung „Villa Frankenstein“, die muf in Venedig inszeniert haben, von diesen Bezügen. Anhand von John Ruskins „Stones of Venice“ wird der Ideentransfer zwischen England und Venedig seit dem 19. Jahrhundert gezeigt. Um diesen Austausch neu zu beleben hat muf etliche Projektpartner in Venedig hinzugezogen, den Philosophen Wolfgang Scheppe etwa und die beiden Umweltspezialisten Jane da Mosto und Lorenzo Bonometto, die eine voll funktionsfähige Lagunenlandschaft inklusive Gezeiten auf dem Balkon des britischen Pavillons aufgebaut haben. Im Hauptraum steht ein Teil der Tribüne des neuen Londoner Olympiastadions als Holzmodell im Maßstab 1:10. Raumfüllend. Hier finden Malkurse für Schüler und Studenten statt, der Raum heißt „the stadium of close looking“ – denn man kann nicht früh genug anfangen, genauer hinzusehen.